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Ekstase braucht kein Niveau - Unterwegs auf Abifahrt 2008

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„Deutschland ist ein schönes Land, da muss man sich benehmen. Drum fahren wir nach Spanien, benehmen uns daneben!“, grölt eine Gruppe 19- und 20-jährige im gleichen blauen Poloshirt mit Aufschrift erhobener Hände vor einem billigen spanischen Touristenbunker. Deutschlandfahnen schmücken die Balkone. Das ist ein sonderbares Bild, aber kein seltenes. Endspurt im Partymarathon Die Gruppe, das sind wir, Berliner Gymnasiasten auf Abifahrt. Das durchgeschwitzte T-Shirt ist unser Abishirt und das Motto tatsächlich ernst gemeint. Von Mai bis August überfluten zehntausende feierwütige deutsche Abiturienten einschlägig bekannte Partyhochburgen: Rimini, Siofok, den bulgarischen Goldstrand, Mallorca, Ibiza und mit besonderer Vorliebe das spanischen Abifahrt-Mekka Lloret de Mar. So auch wir. Nachdem wir die Zelebrationsreihe Abistreich, Abiverleihung, Abiparty und Abiball hinter uns haben, wollen wir doch noch nicht Abschied nehmen, wollen noch ein letztes Mal die Schulzeit und deren Abschluss, die offene Zukunft und die freudenflirrende Gegenwart mit letzter Kompromisslosigkeit feiern: einwöchiger Endspurt des Feiermarathons, die Abifahrt.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Das Programm ist simpel: All-Inclusive Hotel, möglichst billig, nah an Strand und Partymeile, Anreise mit Bus oder Flugzeug, je nach Budget. Reiseveranstalter bieten Komplettpakete an. Das Vorbild hierfür stammt aus Amerika: Bei den amerikanischen „Springbreaks“ pilgern Fluten von Studenten an die sonnigen Party-Hochburgen Floridas oder Mexicos, als Maxime: der maximale Lustgewinn. Lehrer und Eltern waren entsetzt, dass die „zukünftige Elite“, wie es in der Abirede hieß, nichts Kultivierteres vorhat. Sie fragen sich, ob 13 Jahre Bildung tatsächlich in primitiven Sauftourismus münden sollten. Doch jegliches kulturtouristisches Programm würde den Zweck der Abifahrt verkennen: die Nähe der kollektiven Ekstase. Keinen Moment sind wir allein, immer zusammen und stets spüren wir das Gefühl der Gruppenidentität unseres Abiturjahrganges. Nicht umsonst schreiben so viele im obligatorischen Abibuch, dass das Beste der Schulzeit die Freunde gewesen seien. Im Universum einer Abifahrt Es herrscht in Lloret de Mar mit seinem überquellenden Strand eine ganze besondere, recht künstliche Atmosphäre mit trüb-durchsichtigen Plastikbechern, Coca-Cola-Plastikstühlen, und bonbonpapierbunten Luftmatratzen. Dieses Konstrukt wirkt in seiner Künstlichkeit wie ein Fremdkörper zwischen den sonst eher idyllischen Buchten Kataloniens. Die Infrastruktur ist ganz auf den Sauftouristen ausgelegt: Am Straßenrand weisen die Läden das immergleiche Angebot auf: Massenhaft Bars und Diskotheken, Supermärkte mit gigantischem Alkoholangebot, Fastfoodbuden, bis spät in die Nacht geöffnet. Die Touristenshops bieten Luftmatratzen, die man alle zwei Tage neu kaufen muss, weil sie bei kräftigerem zugreifen platzen, Handtücher mit Sprüchen und kitschigen Motiven darauf und Holzschlagstöcke mit „Lloret-2008-Aufdruck“ für die abendliche Strandpromenadenschlägerei. Doch diese sollte man sich besser gut überlegen, denn sie zu unterbinden stellte die Verwaltung von Lloret vor ein paar Jahren eine milizartige Polizeieinheiten ein, die nur abends patrolliert und jede Schlägerei mit dem immergleichen wenig sensiblen Konzept angeht: Losrennen und wahl- und hemmungslos mit den armlangen Schlagstöcken zudreschen. Unser Reiseleiter Bernd weist bei der Ankunft darauf hin: „Wenn ihr eine Schlägerei seht, lauft einfach weg. Die Polizei diskutiert hier nicht.“ In der 1500-Betten-Burg findet man Rentner im Badeanzug, Familienväter im Feinripphemd mit dicklichen Kindern, die zu jeder Mahlzeit nur Pommes essen und britische Vormittagsalkoholikerglatzen im Arsenal-Trikot. Das Publikum ist wie im Pauschalurlaubsklischee zum Lachen und zum Weinen. Es könnte aus Hape Kerkelings Komödie „Club Las Piranhas“ stammen. Nur, dass wir uns dazwischen grölend tummeln und versuchen, so viele Getränke wie möglich zu bestellen, bevor das All-Inclusive-Angebot endet. Man erkennt uns sofort an unserem uniformen Äußeren: Abishirt und Flip-Flops. Die Jungs tragen dazu die Fälschungen der Aviator-Sonnebrille von Ray Ban (Schülerjargon: Pornobrille) und Badeshorts mit Hawaii-Muster, die Mädchen große runde Sonnebrillen, wie Paris Hilton, und Bikinis von H&M. Auf der nächsten Seite: das zentrale Thema Sex und der kitschige Kuss-Moment am Strand


In unserem Hotel finden sich ein Drittel der Berliner Bezirke wieder. Die Nachbarschule ist zwei Hotels weiter. Nirgends ist die Welt so klein wie im Abifahrt-Universum Lloret de Mar. Nähe im Stumpfsinn Zentrales Thema ist Sex: Es läuft viel, aber im Vorhinein wurde noch mehr erwartet. Monate zuvor tönte Erik aus meinem Jahrgang: „In Lloret muss ich unbedingt wen klären. Das ist die letzte Chance, Mann, die letzte. Danach studier‘ ich ja und Studentinnen …nee.“ Vorher wurde gehofft und gewettet und dann kommt es doch ganz anders. Doch noch mehr als Sex und Rummacherei gibt es Gerüchte. Jeder lästert über jeden, jeder weiß immer alles und irgendwie dann wieder doch nicht alles.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Neben Suff , Sex und sich „daneben benehmen“ vergisst man fast, dass es sich bei dieser Meute Spaßsüchtiger, die mit ihrem Urlaubsstil jegliches Kulturinteresse verkennt, um dieselben offenen jungen Menschen handelt, die danach in die Welt ziehen für ein Freiwilliges Soziales Jahr, Work and Travel oder eine Backpackerreise mit dem Lonely Planet im Treckingrucksack. In dieser einen Woche fokussieren wir uns auf eine schlicht-dionysische Facette unserer Persönlichkeiten im Streben nach der Summe der einfachen Glücksmomente bestehend aus gemeinsamem Grölen eines dumpfen Liedes im Reisebus, einem stroboskopbeflackerten Kuss auf der Schaumparty, gemeinsamem Lästern im Schwimmreifen, vergeblichen Annäherungsversuchen an eine heimlich begehrte Person beim Nachtbaden im Meer, hoffnungsgeladenes Aufbrezelen vor dem Weggehen, verbotenem Sex am Strand. Hinter diesen archaischen Hochgefühlen verblasst alles andere. Ekstase braucht kein Niveau. Um zwischen Stumpfsinn und Sinnsuche diese so vergänglichen Momente der Nähe zu spüren, nehmen wir die Enthemmung des Alkohols zur Hilfe. Dann aber ist nichts mehr peinlich, nichts mehr nüchtern, alles sich nah, um sich kurz darauf vielleicht für immer zu verlieren. Adoleszenzromane im Schnelldurchlauf In manchen ganz stillen Momenten fällt das Gespräch dann plötzlich auf die offene Zukunft und auf das, was vom Leben erwartet wird. Abifahrten sind Adoleszenzromane im Schnelldurchlauf: Weg von Zuhause, Liebe Sex, Drogen, nicht wissen wohin und die Verlogenheit, die Holden Caulfield in „ Der Fänger im Roggen“ so verstört. Diese Verlogenheit gibt es auch hier. Wenn wir uns in einem kitschigen Moment am nächtlichen Strand so trunken wie tränentrunken schwören, dass wir uns nie verlieren wollen, wissen wir um die partielle Verlogenheit dieses Versprechens und lassen uns wieder in eine der etlichen Diskos treiben, um zu tanzen und uns ganz als Abireisende zu fühlen, uns zu fühlen, als hätten wir alles gewusst und alles vergessen, als gäbe es kein Morgen und als gäbe es nichts als Morgen, zu tanzen vor einem Meer von Möglichkeiten, zu tanzen in einem Meer von Möglichkeiten, zu tanzen wegen des Meeres von Möglichkeiten und zu tanzen bis zum Morgen und wegen des Morgens und weil, ja, weil, wir Abiturienten sind. Der Autor hat in diesem Jahr auf der Gabriele-von-Bülow-Oberschule in Berlin sein Abitur gemacht. Er ist deutschsprachiger U20 Poetry-Slam-Meister (jetzt.de berichtete)

Text: julian-heun - Fotos: Oleg Rosental

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