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Auf der Bühne beim Open Mike - ein Lagebericht
Phase 1: Der erste Kontakt: Cetate, Rumänien, Anfang Oktober, Außentemperatur ca. 27° Ich stehe in einem kleinen Zimmer, als mein Mobiltelefon klingelt. Seit vier Wochen hat es nicht geklingelt, schließlich wissen doch alle, dass ich weg bin, dass ich für zwei Monate nicht nur sprichwörtlich in der Walachei bin. Ich schaue aus dem Fenster auf die Donau, ich schaue auf Bulgarien dahinter, frage mich, ob Sergiu und ich besser heute oder morgen die Esel füttern gehen, ich schaue zurück auf die Berliner Nummer, die auf meinem Display blinkt. Richtig, die andere Welt ist ja immer noch da. Ich gehe ran. Eine Frauenstimme freut sich, mir mitteilen zu können, dass ich zu den Teilnehmern des 16. Open Mike zähle. Und jetzt müsse alles ganz schnell gehen, jetzt müsse mein Text fertig gemacht werden, Wort für Wort wie ich ihn beim Wettbewerb lesen möchte (aber nur 15 Minuten, dann klingelt der Wecker!), und meine Biographie, und all das wird dann gedruckt und es wird vorher ein Essen geben und eine Party und Ruhm und Ehre natürlich und überhaupt. Als ich aufgelegt habe, ist es in meinem Zimmer stiller als je zuvor. Ich schaue aus dem Fenster auf die Donau, auf Bulgarien dahinter, frage mich, ob Sergiu und ich besser heute oder morgen die Esel füttern gehen.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Phase 2: Ausbalancieren Berlin, Anfang November, Außentemperatur ca. 6° In drei Wochen läuft mein Mietvertrag aus, ich habe noch keine neue Wohnung, der Himmel ist grau. In der Zeitung wurde ich vor wenigen Tagen beschrieben als ganz in schwarz gekleidet, müde, blass und Kette rauchend – immerhin haben sie nicht auch noch darauf hingewiesen, daß ich über 30 und unverheiratet bin. Im Internet lese ich, dass beim Open Mike auch jemand anwesend sein wird, der nach einer Preisverleihung einmal zu mir sagte, ich habe ausgesehen, als hätte man mir eine Mülltonne überreicht. Ich denke über meine Bühnentauglichkeit nach. Per Mail wird mir mitgeteilt, ich solle mir die paar Tage nach dem Open Mike prophylaktisch freihalten, da die Gewinner auf Lesereise gehen, nach Frankfurt, nach Zürich, nach Wien. Prophylaxe, das kenne ich nur von meinem Zahnarzt. Gewinner? Lesereise? Wien. Ich denke an Wiener Schnitzel. Ich denke, dass es schön wäre, zu gewinnen, um dann in Wien ein Wiener Schnitzel essen zu können. Ja, ein Wiener Schnitzel, das ist etwas Greifbares, Berechenbares, damit kann ich etwas anfangen. Phase 3: Keine Panik! Berlin, Mitte November, Außentemperatur ca. 10° Mit viel Glück und Tricks habe ich eine neue Wohnung gefunden. Das Problem wäre also gelöst. Plötzlich habe ich sehr viel Zeit zum Nachdenken. Noch vier Tage bis zum Open Mike. Ich lese alles noch einmal im Internet nach. „Nachwuchsautoren“ steht da. „Renommierte deutschsprachige Verlage“ steht da. „Die versammelte literarische Welt“ steht da. Da steht, ich habe 15 Minuten Zeit, alle auf mich aufmerksam zu machen, „dann schrillt der Wecker“. Ich frage mich, wie man aussieht, wenn einem jemand eine Mülltonne überreicht. Ob ich mir jetzt noch irgendwas Buntes zum Anziehen kaufen muß. Ob ich mit dem Rauchen aufhören sollte. Ob ich vielleicht irgendwem einen Heiratsantrag machen kann. Ich rufe Freunde an und frage, ob sie Händchen halten kommen. Aber alle behaupten, sie würden die Stadt verlassen. Sie würden in andere Städte fliegen. Wien, Wiener Schnitzel, denke ich, wie schön. Ich suche im Internet nach den besten österreichischen Restaurants in Berlin. Für alle Fälle. Wiener Schnitzel also. So oder so. Phase 4: Zwischenepisode Berlin, 13. November, Außentemperatur: gefühlte minus 10° Das Ablenkungsprogramm läuft auf vollen Touren. Heute Abend zur Lesung eines Freundes, sogar mit dem Rad, was ich nach zwei Minuten schon bereue. An den Stehtischen im Vorraum trinke ich mit ein paar Leuten noch ein Bier bevor es losgeht, nicht alle davon kenne ich. Eine Frau erzählt, dass sie sich die Anthologie zum Open Mike schon gekauft und die Texte gelesen habe, die Namen der Teilnehmer gegoogelt. Bei mir ist sie auf diesen Zeitungsartikel gestoßen, bevor sie weitersprechen kann, greift schnell jemand ein und stellt uns einander vor, bevor sie etwas Peinliches sagen kann. Sie mustert mich von Kopf bis Fuß, sagt, nach dem Artikel habe sie eigentlich so ein Gothik-Mädchen erwartet, mit schwarzgerahmten Augen, Glöckchen an den Schuhen und Zigaretten hinter den Ohren. Sie scheint beinahe enttäuscht. Phase 5: ??? Berlin, 15. November, Nieselregen Als ich aufwache, fühle ich mich wie 80. Gestern habe ich mir irgendeinen Nerv im Nacken geklemmt, meinen Kopf kann ich kaum drehen, die Wettbewerbsauftaktparty gestern habe ich sausen lassen und mich stattdessen mit dem Hals auf eine Wärmflasche gelegt. So viel zu dem Wort „Nachwuchsautoren“, da haben die Altersverschleißerscheinungen auch schon eingesetzt. In einer Stunde muß ich los, dann wird die Lesereihenfolge ausgelost. Ich achte darauf, nicht nur schwarze Sachen anzuziehen. Vor der „Wabe“ vereinzelte Gestalten, alle scheinen müde oder verkatert oder beides. Ich kann meinen Kopf nicht zur linken Seite drehen, wirke deshalb auf Personen auf dieser Seite meines Gesichtsfeldes sicher unhöflich. Oder man hält es für Anspannung. Kurze Radiointerviews werden gegeben. Alle sondieren die Lage, alle sehen ein wenig grün im Gesicht aus. Das Auslosen ist der erste offizielle Akt, der auf der Bühne statfindet, in alphabetischer Reihenfolge. Ich habe Glück, die Nummer 9, das heißt heute um 18.00, als Erste des letzten Blocks für den ersten Lesetag. Dann geht es los, etliche Worte zum Auftakt, Vorstellung der Lektoren, der Jury. Immer mehr Leute drängen sich in den Raum, setzen sich auf die letzten freien Stellen des Bodens, ein Kind weint. Dann die ersten Lesungen. Ich frage mich, ob ich Lyrik je verstehen werde. Ob ich auch irgendwas Performatives machen sollte, ob ich noch schnell einen Masseur engagieren sollte, der mir während der Lesung warmen Fango über den Nacken gießt. Viertel vor sechs. Bis eben waren noch die Schmerzen im Hals der vordergründigste Gedanke, nun werden sie überlagert und verdeckt, was ja zu begrüßen wäre, würde mir nicht stattdessen die Unruhe durch den Körper pochen. Zum Glück tauchen hier und da freundliche Gesichter auf, bekannte Gesichter, wohlgesonnen, es haben also doch nicht alle Freunde die Stadt verlassen. Dann sitzen, einatmen, ausatmen, nicht stolpern auf dem Weg zur Bühne, ganz ruhig, denke ich, steht doch alles da, denke ich, und zwar Wort für Wort, denke ich, wie ich es jetzt beim Wettbewerb lese, der Wecker wird nicht klingeln, so weit wird es nicht kommen, ich werde schneller sein ... mein Text verschwimmt, ich lese ihn in einen gefüllten, mehr als wohlig warmen Raum hinein. Danach schnell abtauchen, sich von wohlbekannten Händen greifen und aus der Menge herausziehen lassen, an einen anderen Ort, an dem die Literatur keinen Stellenwert hat, stattdessen heiße Suppen und Bier, die ersten Atemwolken, die sich auf dem Heimweg als Rauchwolken in der Nacht abzeichnen. Phase 6: Tag der Entscheidung Berlin, 16. November (05:30 Uhr) Klar, das liegt an den Schmerzen, dass ich nicht schlafen kann. Klar, das ist nicht, weil viele Sätze des Tages mir im Kopf herumschwirren, und Gesichter vor den Augen, und Hände die geschüttelt und in die Visitenkarten gedrückt wurden. Das ist nicht, weil seit zwei Tagen das ganze Umfeld nur aus Literatur und Agenten und Lektoren und Jurymitgliedern und Verlegern besteht, oder weil wieder von dieser Lesereise gesprochen wurde, Zürich, Frankfurt, Wien, eigentlich wäre ja nicht nur an Wiener Schnitzel zu denken, sondern auch noch an Zür’cher Geschnetzeltes und Frankfurter Grüne Sauce. Gibt es gute Schweizer Küche in Berlin? Gibt es Restaurants mit Hessischer Küche überhaupt irgendwo außerhalb Hessens? Ich wünschte, es wäre mal fünf Minuten still. (14.00 Uhr; wieder vor der „Wabe“) Die letzten Lesenden stehen aufgeregt zwischen den Zuschauern, die wechselweise rauchen, herumstehen, Kaffee oder Wein trinken, diskutieren, Wetten abschließen. Dann wieder hinein ins Gedränge, der letzte Leseblock, überall schwappt das Adrenalin auf den Boden. Auf keinen der Vorträge kann ich mich richtig konzentrieren, ich verliere die Satzenden, stückele mir die Texte zusammen, nehme noch eine Schmerztablette, die Leute strömen nach der letzten Lesung wieder aus dem Saal, sibirische Kälte und Nieselregen setzen ein. Phase 7: Urteilsverkündung Berlin, 16. November; 17:00 Viele Reden, viele Danksagungen, dann die Kür. Vier Autoren werden nach vorn gerufen, bekommen Blumen in die Hand gedrückt, das Herz schlägt, aber mein Name ist nicht darunter. Für Grüne Sauce ist ohnehin nicht die Zeit, denke ich, Grüne Sauce ist jetzt selbst in Frankfurt nicht aufzutreiben, da nützt es auch nichts, gebürtiger Hesse zu sein. Und Zür’cher Geschnetzeltes, sagt man mir, gibt es ohnehin nur außerhalb der Schweiz, vor Ort isst das kein Mensch. Ich werde von Freunden angerufen, denen plötzlich alles leidtut. Nicht nur, dass ich nicht gewonnen habe, sondern überhaupt alles tut ihnen leid, was in den letzten dreißig Jahren schiefgelaufen ist mit uns. Ich verabrede mich für die nächsten drei Abende zum Wiener-Schnitzel-Essen in guten österreichischen Restaurants in Berlin. Dann wird es leise, als ich die letzten Schritte im Regen auf meine Haustür zu laufe. Ich frage mich, ob es im Berliner Zoo vielleicht Esel gibt, die ich füttern gehen könnte. Aber ohne Sergiu mit seiner rumänischen Gelassenheit wäre das wohl ohnehin nicht dasselbe.