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Oktoberfest: Sieben Wahrheiten über miese Wiesn-Klischees
Eigentlich wäre am heutigen Samstag der Auftakt der Wiesn gewesen – doch in diesem Jahr findet das Oktoberfest wegen der Corona-Pandemie nicht statt. Die einen trauern und freuen sich auf die kleinen, der Pandemie angepassten Alternativ-Wiesn in diversen Kneipen. Andere sind froh, in diesem Jahr um das Brimborium herumzukommen. So oder so – es gibt einige Wiesn-Klischees, die auch dieses Jahr von vielen wieder hervorgeholt werden. Unsere Autorin ist geborene Münchnerin und hat schon im vergangenen Jahr einen Text über diese Vorurteilen geschrieben – wir veröffentlichen ihn hier noch einmal. Ihre Tipps gelten schließlich auch dann noch, wenn die Wiesn irgendwann wieder stattfindet.
„Oktoberfest? Da kann ich ja gleich nach Malle fahren“, schreibt mir einer meiner Hamburger-Hipster-Freunde, während er vermutlich auf irgendeiner Obstkiste sitzt und ein Glas „Helmut Wermut“ oder etwas ähnlich Trendiges trinkt. Ich bin entsetzt über so viel Ignoranz. Weiß er denn nicht, wie generös mein Angebot ist? Nicht (nur), weil ich ihm meine Schlafcouch zur Verfügung stelle, die ich für Hunderttausende Euro vermieten könnte – sondern wegen des emotionalen Werts meines Antrags: Als Homo Munichius hole ich mir ja nicht jeden Plan-B-Bekannten zur Wiesn her, sondern nur die Crème de la Friends.
Aber vielleicht kann er es nicht besser wissen. In ganz Deutschland wird laut gejammert: Auf die vulgäre Sauferei habe man wenig Bock, auch wegen des Preislevels eines Hummerdinners. Das ganze Verkleiden sei eh peinlich. Generell, man sehe eigentlich alles, was mit unserer Gesellschaft falsch ist, auf dem Oktoberfest: den Kommerz, den Exzess, den Eskapismus und die ganze Verlogenheit der deutschen Oberschicht, 12 EURO FÜR DAS BIER, vollgekotzte Toiletten, Musik, die irgendwo zwischen Schlagergarten und Kölner Karneval liegt, Tourist*innen ohne Ende – und ob man schon die Seite Münchenkotzt.de kennen würde?
Natürlich kenne ich Münchenkotzt.de. Das Oktoberfest kann ein finsterer Ort sein. Geschenkt. Aber es scheint so dermaßen en vogue, dieses Volksfest zu haten, dass man sich manchmal wundert, dass überhaupt Menschen dort auftauchen. Dabei sind die einzigen, die sich wirklich beschweren dürfen, die Einheimischen – also ich. Ich bin aber gnädigerweise dazu bereit, meine gesammelte Weisheit über das Oktoberfest mit allen Nicht-Münchner*innen, Einmal-Oktoberfestgeher*innen, Zelt-Verweigerer*innen und München-Skeptiker*innen zu teilen:
„Pärchen, die gemeinsam kotzen, können allem Übel trotzen“
1. Die Wiesn ist nicht der Ballermann, sondern Saufen mit Tradition
Die Wiesn ist ein Bierfest – aber eben nicht nur. Manchmal ist das Bier auch nur Nebendarsteller, wie Sekt beim Brunch oder Kondome beim Sex. Beispiel: Jedes Jahr stehen meine Familie und ich mit einem Hellen, Obazden und Brezn in voller Trachten-Montur in der Leopoldstraße und bewundern den Trachtenumzug. Menschen aus nah (Erding) und fern (Polen) ziehen mit traditionellen Gewändern, Geräten und Gewehren vorbei. Wir juchzen besonders schönen Kleidungsstücken hinterher. Dann geht es auf die Oide Wiesn, ein, zwei Maß im Herzkasperl-Zelt, ja auch die Oma ist dabei, und dann auf die Münchner Rutschn und wer noch kann, traut sich auf den Taumler. Kitschig-klischeeig wie das Musical „The Sound of Music", aber für Münchner Familien so oder so ähnlich normal. Und wer würde schon seine Oma zum Ballermann mitnehmen?
2. Die Wiesn ist der beste Ort zum Verlieben
Grapscher, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung – das ist bittere Festival-Realität und gerade auf dem Oktoberfest mit dem ganzen Alkohol passiert leider immer noch jedes Jahr Schlimmes. Passt also aufeinander auf, wenn ihr euch in die am besten überwachte und kapitalistische Anarchiezone der Welt begebt. Und trotzdem: Auf der Wiesn geschehen Wunder. Nicht wenig Paare haben im Hackerzelt das erste Mal geknutscht, sind händchenhaltend im Licht der Fahrgeschäfte über die Festwiese getaumelt und haben gemeinsam vom Looping gekotzt. Da lernt man sich doch gleich richtig gut kennen. Ein Band für die Ewigkeit.
3. Die Tourist*innen sind keine Plage, sondern wundervoll
Menschen, die sich über die Tourist*innen-Horden aus Italien, Niederlanden, Kanada und so weiter aufregen, müssen herzlos sein. Sicher, sie saufen, sie kotzen, verstopfen die Öffis, tragen seltsames Zeug. Aber es gibt wenig Rührenderes als Leute, die extra für dieses Fest von fern her in das sonst eher fade München reisen: Und das sage ich als jemand, der während seines Studiums jahrelang als Trachten-Verkäuferin in der Münchner Innenstadt gearbeitet hat: Schürzen gebunden, Brüste in Dirndln zurechtgerückt und Hornknöpfe durch harte Lederhosen-Löcher gedrückt. Nichts ist netter als aufgekratzte Japanerinnen, neugierige Australier oder angetüdelte Amerikaner, die stolz die Brust im frisch gekauften Stehkragen-Trachtenhemd recken und sich die Loferl (gestrickte Wadenwärmer) zurechtrücken – aufgeregter als Kinder am Weg zu Disneyland.
„Es ist das, was du draus machst“
4. Nicht alle sind zum Saufen da
Nicht jedes Mal Wiesn muss ein echter Absturz sein, nicht jedes Mal Wiesn ist die beste Party deines Lebens, und vor allem: nicht jeder Besuch ist gleich. Da gibt es etwa den After-Work-Schlenderer, den Fahrgeschäfte-Trip mit Kindern, das Nachmittagsbier im Zelt-Biergarten, die gebrannten Mandeln auf der Treppe an der Bavaria – und manchmal reicht es auch schon mit dem Fahrrad an der Theresienwiese vorbeizufahren, um es als Oktoberfestbesuch zählen lassen zu können. Wer also keinen Bock auf Trinkgelage hat, kann die Wiesn auf jeden Fall als das nutzen, was sie eigentlich ist: ein riesiger Spielplatz, ein Wimmelbild mit immer neuen Charakteren.
5. Man kann herrlich über Traditionen diskutieren
Es gibt rund um das größte Volksfest der Welt Traditionen, die stehen nicht auf dem Index der bayerischsten Dinge – und trotzdem, sie gehören dazu: das obligatorische Weißwurst-Essen vor dem Festzeltgang, das Wegbier in der U5, sich gegenseitig Flechtfrisuren auf den Kopf basteln, pseudo-bairisch sprechen, mit 16 Jahren am ersten Wiesntag vier Stunden vor den Zelten campieren, über die Leute auf dem Kotzhügel lachen, selber besoffen auf dem Kotzhügel einpennen. Das ist Stuff, den man sich am besten von echten Münchner*innen erklären lässt – und dann zuschaut, wie die sich streiten, was jetzt dazu gehört und was nicht. Lebendige Tradition!
„Erst kennenlernen, dann urteilen“
6. Die Wiesn ist für jeden gut – wenn auch nur zum Lästern
Sich über das Oktoberfest und seine Ausschweifungen aufzuregen, gehört zu einem guten Wiesnbesuch wie Limo zu Radler. Die Mode, die Preise, die manchmal groben Polizeibeamt*innen, fiese Banknachbar*innen, die Menschenmassen, die neuesten Sicherheitsvorkehrungen, München generell, alles okay. Aber Achtung! Als Nicht-Münchner*in hält man sich besser zurück – vor allem gegenüber Einheimischen. Genauso wie es nicht höflich ist, jemandem zu sagen, dass man dessen Mutter für schrullig und dessen Vater für dümmlich hält, sollte man sich Münchner*innen gegenüber mit einem Wiesn-Urteil zurückhalten. Schließlich haben die sich das Leben mit dem Oktoberfest nicht ausgesucht und leiden selbst am meisten darunter. Und trotzdem ist es Teil der Münchner-Regional-Identität.
7. Auf der Wiesn lernt man, wie andere uns sehen
... oder was man im Ausland eben so dafür hält. Das Oktoberfest, Lederhosen und Bier sind die drei Dinge, die überall auf der Welt mit Deutschland assoziiert werden. Mit ganz Deutschland, nicht nur Bayern. Da ist es ziemlich bums, ob du das Brandenburger Tor auf deine Stirn tätowiert hast oder Rheinwasser in deinen Adern fließt – wenn du dich in Papua-Neuguinea in eine Bar setzt und ein Einheimischer hört, dass du aus Germany kommst, wird er sagen „aaaaah Beerfest!“. Und da sollte man immerhin wissen, was es mit dieser Wiesn auf sich hat.
Dieser Text wurde zum ersten Mal am 04.10.2019 veröffentlicht und zum Nicht-Wiesn-Auftakt in diesem Jahr noch einmal aktualisiert.