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Thomas Brussig in Kairo (3)
Es gibt jeden Tag diese unglaublichen Minuten, und es gibt sie mehrmals: Wenn ich auf der Terrasse unserer Wohnung auf dem Dach des Al-Masri-Tower stehe und die Muezzine zum Gebet rufen. In diesen Minuten wird Kairo zum Klangkörper. Das Singen der Muezzine verschwimmt sechzig Meter über der Stadt zu einem Klang, der an das Gesumm im Bienenstock erinnert, wenn sich ein Mensch nähert. Oder an den Moment vor dem Beginn eines klassischen Konzerts, wenn der Dirigent erscheint und sich alle Musiker auf einen Ton einstimmen... Mehrere Minuten hält die Stadt diesen Ton, ist wie verzaubert, doch dann verschwindet der Ton ebenso schnell, wie er gekommen ist, und Kairo klingt wie immer: Nach Gehupe und Motoren.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Einen bemerkenswerten Anblick bieten auch die –zigtausenden Satellitenschüsseln, die dicht gedrängt auf den Dächern stehen und ihre Trichter den unsichtbaren Raumkörpern entgegenrecken, auf daß sich die Wellen, die Informationen tragen, einfangen lassen. In Kairo kämpft die Metropole gegen den Moloch, und es ist nicht klar, wer gewinnt. Daß es diese Stadt überhaupt so gibt, ist ein kleines Wunder: Kairo hat doppelt so viele Einwohner wie die größte Metropole Europas, und obwohl es hier Armut kraß und Armut zuhauf gibt, obwohl es in den Christen eine Minderheit gibt, die groß genug ist, daß sie sich als Feinbild lohnt – das Zusammenleben von arm und reich, von Christen und Moslems funktioniert. Kairo ist kein Stadtmonster wie Manila (gibt sicher noch schlimmere Städte als Manila, ich war z.B. noch nie in Lagos), keine Anti-Stadt wie Los Angeles und auch kein Pulverfaß wie Paris. Wir wohnen in Zamalek auf der Insel Gezira. Zamalek erinnert etwas an Paris, weil es so zivile Ausmaße hat: Die Straßen sind nicht zu breit und nicht zu schmal, es gibt jede Menge Geschäfte, Cafés, Wäschereien, die Häuser sind fünf- oder sechsgeschossig, oft auch höher. Man könnte an die ruhigeren Viertel von Paris oder Wien denken, wenn, ja wenn das nicht alles so heruntergekommen wäre. Die Fassaden sind grundsätzlich braun oder grau, und mehr oder weniger alles ist angerostet, abgeschlagen, fleckig, gebrochen, zerkratzt, überklebt, auf halb acht hängend... Farben sind immer abgeplatzt, Spiegel halbblind. Die Stadt hatte zweifellos mal Pracht. Doch sie scheint schon seit Jahrzehnten sich selbst überlassen zu sein, wie ein Zimmer, in dem nie Staub gewischt wurde und das weiter einstaubt...
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Kairo ist eine unglaublich vielfältige Stadt, und hinter engen Durchgängen, hinter Hauseingängen tun sich oft ganze Welten auf, von denen man außen nichts ahnt. Da sind Läden, Schneidereien, Bistros, Cafés… In Gassen, Gängen und Katakomben geht das städtische Leben weiter, das Gefühl der Leere, das wir von Parkhäusern kennen, gibts hier nicht. Letztens gerieten wir in ein Stadtviertel (Viertel ist übertrieben, Tausendstel triffts eher, nur sagt niemand Stadttausendstel), in dem die Straßen so eng waren, daß dort keine Autos fuhren. Die Häuser waren höchstens vierstöckig, die Bevölkerung arm. Das Leben schien sich auf der Straße abzuspielen; der Straßenrand war mit Händlern gesäumt, die Berge von Tomaten und Orangen anboten. Abfälle lagen herum, Hammel liefen umher oder wurden in Erdgeschossen von Wohnhäusern in Ställen gehalten. Hier und da sah man gehäutete Hammelkörper hängen oder drei Hammelköpfe in einem Eimer liegen... Noch wenige Tage zuvor, als die Tiere geschlachtet wurden, soll das Tierblut die Straße heruntergeflossen sein. Dieses Viertel war wie eine Welt für sich, wie ein Winz-Westberlin sozusagen: Als wir durch eine Gasse gingen und an deren Ende kamen, waren wir wieder in das Kairo entlassen, das wir kannten – mit den zerbeulten, hupenden Autos, dem chaotischen Verkehr.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Zum Thema Verkehrsregeln habe ich mal von Orhan Pamuk etwas Überzeugendes gehört: Er sagte, Verkehrsregeln gelten in Istanbul als rational und abstrakt und darum westlich. Nur Westler sind so blöd, stehenzubleiben, bloß weil die Ampel auf Rot steht. Verkehrsregeln werden demzufolge abgelehnt. Im Orient ist man frei, spontan und an die Situation gebunden – da braucht man keine starren Regeln. Nun erzählte Pamuk aber, wie sein Fahrer mal in einen inneren Konflikt geriet: Es war totaler Stau, die Ampel stand auf Rot, und wäre er bis zur Mitte der Kreuzung vorgefahren, dann wäre er „orientalisch“ gefahren – andererseits wußte er, daß er in dieser Situation mit den Regeln des verachteten Westens schneller wäre. Er muß bei Rot stehenbleiben, denn sonst wird die Kreuzung nie frei. Das beschäftigte den Fahrer Orhan Pamuks: Soll ich orientalisch fahren und mich dafür verspäten? Oder soll ich den Orient verraten, nur um schneller zu sein? Dies ist ein Auszug des Tagebuchs von Thomas Brussig, der zur Zeit als Stadtschreiber in Kairo gastiert. Anlass ist die Ägyptische Buchmesse, auf der dieses Jahr Deutschland als Gastland repräsentieren darf. Die kompletten Tagebücher von Thomas Brussig kann man auf der Webseite des Goethe-Instituts lesen, über das er uns die Auszüge freundlicherweise zur Verfügung stellt.