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Warum gerade alle „Pokémon Go“ spielen
Meine Erinnerung an Pokémon besteht aus Wassereis und Kindercola; meine Finger kleben. Ich drücke auf einem roten Gameboy-Klotz rum. Das Steuerkreuz klackert. Aus dem Lautsprecher dudelt zum Daddeln dramatische Musik.
Ich bin knapp acht Jahre alt und im Pokémon-Fieber. Das japanische Spiel, bei dem es darum geht, knuddelige Monster zu sammeln, zu trainieren und kämpfen zu lassen, ist mein Lebensinhalt. Es sind die späten Neunziger. Und von mir und meinen Freunden wird ernsthaft in Erwägung gezogen, ob es nicht eine berufliche Alternative wäre, Pokémon-Champion zu werden: "Mann, stell dir mal vor, das würde es in echt geben."
15 Jahre später ist aus dem Kleine-Jungs-Traum Realität geworden – zumindest fast. "Pokémon Go", der Ur-ur-Enkel meines Spiels, ist da. Das Novum an dem Nachfolger: Die Vermischung mit der Wirklichkeit. Statt auf seinem Bildschirm durch eine Fantasiewelt zu stöbern, nutzt das Spiel nun die Standortdaten des Smartphones. Man streift also durch die Stadt und das Handy zeigt an, wenn man sich einem Monster nähert. Stößt man auf eines der Wesen aus dem Spiel, erscheint das Monster über die Kamera in der realen Umgebung und man kann es schnappen.
Man kann das zum Beispiel im Central Park in New York gut beobachten: Der ist gerade besonders dicht bevölkert mit Go-Spielern. Orientierungslos tapern die "Trainer" durch die Grünanlage und starren auf ihre Handys. Auf ihren Bildschirmen ploppen die Wesen auf. Per Display-Streicheln wird der Pokéball zum Fangen der Viecher geworfen. Vor allem an öffentlichen Orten und Plätzen finden sich die Taschenmonster.
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Bevor das möglich ist, steht allerdings noch etwas Frust an: Stand Montag, 16.10 Uhr sind die Server immer noch überlastet. Niantic hat nicht damit gerechnet, dass sich so viele Spieler "Pokémon Go" über Umwege besorgen. In Deutschland müssen die Reserve-Trainer und Arena-Helden deswegen offiziell noch die Finger still halten. Bisher ist das Spiel nur in den USA, Neuseeland und Australien auf dem Markt. Über Kniffe können sich aber auch deutsche Zocker die App runterladen. Doch Vorsicht: Die Android-Datei soll teilweise mit einem Trojaner befallen sein.
Vorsicht auch im Spiel! Seit Sonntag geistern kuriose Meldungen durchs Netz. In Wyoming entdeckte eine 19-Jährige auf der Jagd nach einem Wasser-Pokémon eine Leiche. In Missouri lockten Räuber mehrere Opfer mit der App in eine Falle und raubten sie aus. Auch Helikopter-Eltern kreisen schon über dem Thema. In Foren und Kommentarspalten fetzt man sich über die Gefahren der App – Crash-Szenarien inklusive. Wenigstens den Eltern gegenüber haben die Spieler allerdings einen entscheidenden Vorteil zu früher: Die alte Forderung, "Geh doch mal wieder raus zum Spielen", gegen kubische Pupillen ist kein Widerspruch mehr zum Daddeln.
Aktienkurs von Nintendo um ein Viertel gestiegen
Die Entwicklerfirma Niantic (eine ehemalige Google-Tochter) realisierte mit "ingress" bereits ein anderes Spiel mit dem Konzept der "Augmented Reality". Dabei wird die Wirklichkeit um computergenerierte Inhalte erweitert. Doch "ingress" war wohl vielen Spielern zu düster, dystopisch und unbehaglich. Dann doch lieber süße Monster sammeln und das Was-Wäre-Wenn-Das-Echt-Wäre-Gefühl aufleben lassen. Spannende neue Technik ist für sich natürlich schon interessant. Wenn sie sich aber auch noch mit Nostalgie paart, wird sie zur absoluten Macht. Zumal "Pokémon Go" ja auch noch die starke Logik der Sammelwut mit einem Multiplayer-Spielprinzip kombiniert – und dabei offenbar tatsächlich mehr ist als die Summe der Einzelteile.
Für Nintendo ist "Pokémon Go" jedenfalls schon jetzt ein Glücksgriff. Der Spielekonzern aus Japan kroch zuletzt den Big Playern im Software-Game hinterher. Vor allem den Fokus auf Konsolenspiele sahen die Anleger kritisch. Mit "Go", dem ersten Smartphone-Spiel des Konzerns, ist der Aktienkurs nun um knapp ein Viertel in die Höhe geschossen. Damit ist das Unternehmen umgerechnet knapp fünf Milliarden Euro mehr wert. Geld bringen soll "Pokémon Go" über In-App-Verkäufe. Runterladen kann sich das Spiel jeder umsonst.
Meine nostalgische Freude ist mittlerweile der Frustration gewichen. Trotz USA-iTunes-Anmeldung, Speicherplatz-Freiräumen und Pokémon-Trainer-Club-Mitgliedschaft (mit Zertifikat) konnte ich noch keine Minute spielen. Da kram ich doch lieber den alten Gameboy-Knochen raus. Hol mir ein Wassereis aus dem Kühlschrank, puste erst in den Spielschlitz, dann in die Kassette der Blauen Edition und leg los.