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Ist es richtig, für Gina-Lisa Lohfink zu demonstrieren?
Die Stimmung ist entspannt. So entspannt zumindest, wie die Stimmung eben sein kann, wenn gerade Geschichten von Vergewaltigungen vorgelesen werden, bei denen es zu keiner Verurteilung kam. Zum Beispiel die Geschichte von einem Mädchen, das nach einer Vergewaltigung mit Verletzungen zur Polizei kam und dort kühl abgefertigt wurde, bis sie schließlich einen Brief bekam, indem stand, dass sie sich ihre Verletzungen wohl selbst zugefügt haben müsse. Oder die Geschichte von einer jungen Frau, die als unglaubwürdig eingeschätzt wurde, weil sie nach ihrer Vergewaltigung an einer dissoziativen Störung litt. Nicht nur an dissoziativen Störungen. Sie leidet seither auch an Vertrauensschwierigkeiten in Beziehungen. An Ängsten. An einer gehemmten Sexualität.
Vor dem Amtsgericht Tiergarten stehen also etwa 150 junge Frauen und Männer in der Morgensonne. Sie haben Schilder, Plakate und Bänder dabei. "No means No", steht auf denen zum Beispiel. "Patriarchat abschaffen" oder auch "Die Würde des Menschen ist unantastbar". Und natürlich ist das, was die Demonstranten und die Redner da tun, ein Spiel mit Emotionen. Aber sind Emotionen nicht wichtig, wenn die kalte Statistik sagt, dass in den meisten Fällen, in denen Vergewaltigungen angezeigt werden, keine Verurteilung folgt?
Auch in dem Fall, um den es den Demonstranten geht, stand Aussage gegen Aussage. Version gegen Version. Und am Ende stand ein Urteil, das viele für einen Skandal halten. Denn im Gerichtssaal geht es um das Model Gina-Lisa Lohfink. Und um die Frage, ob sie zwei Männer zu Unrecht beschuldigt hat, sie vergewaltigt zu haben. Zumindest die Antwort der Menschen außerhalb des Gerichtssaals ist eindeutig. "Du bist nicht allein!", rufen die Demonstranten.
Man kann das zunächst verstehen. Menschen, die das Video gesehen haben, das die Männer gegen den Willen Lohfinks ins Netz gestellt hatten, beschreiben eine sediert wirkende Lohfink, die "Nein!" und "Hör auf!" ruft und sich eindeutig gegen etwas zu wehren scheint. Viele Menschen solidarisierten sich mit dem ehemaligen „Germany's Next Topmodel“-Star. Auch deshalb, weil es sofort eindeutig scheint, dass hier eine Vergewaltigung aufgezeichnet wurde – und es, so die Argumente, entsprechend vollkommen unverständlich sei, warum die Richterin das anders einschätze.
Vollkommen eindeutig ist dieser Fall trotzdem nicht. Dass Gina-Lisa Lohfink sich gegen die Videoaufnahme und nicht gegen den Sex gewehrt haben könnte, ist zumindest eine der theoretischen Möglichkeit in einem Szenario mit vielen Unklarheiten. Eindeutig ist, dass sie nicht mit dem einverstanden war, was passiert ist. Weniger eindeutig ist, was genau das in diesem Moment war. Zumindest interpretierte die zuständige Richterin das so. Dass Lohfink einem der beiden Männer nach der gemeinsamen Nacht noch SMS mit den Worten "Vermisse Dich!" geschrieben haben soll. Dass ihr Anwalt zunächst nur Anzeige wegen einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts durch die Videos stellte und darin noch von "einvernehmlichen sexuellen Handlungen" sprach. Dass ein Toxikologe, der – anders als die meisten Menschen – das gesamte Videomaterial sah, Lohfink als zurechnungsfähig einstufte. Dass sie nach dieser Nacht noch eine weitere Nacht mit einem der Vergewaltiger verbracht haben soll – all das nährt die Zweifel an Lohfinks späterer Aussage.
Die Demonstranten teilen diese Zweifel nicht. In der Netiquette der Facebook-Seite, die zur Solidarität mit Gina-Lisa und zur Demo vor dem Amtsgericht aufruft steht: "Menschen, die auf diese Seite kommen, um Zweifel an Gina Lisas Glaubwürdigkeit zu streuen, werden umgehend geblockt." Wieso darf hier nicht gezweifelt werden, wo die Justiz doch genau prüfen muss, was passiert ist und Zweifel an Aussagen dabei zur Methode gehören?
Die Vehemenz der Demonstranten könnte auch damit zusammenhängen, dass Lohfinks Aussage immer wieder zusammen mit ihrer Arbeit als Erotikstar oder ihrem Aussehen erwähnt wurden. Als ob operierte Brüste Aussagen vor Gericht unglaubwürdiger machen würden. Man kann das hier also vielleicht auch als die andere Seite sehen, auf die das Pendel schwingt. "Ich bin fest überzeugt davon, dass sie die Wahrheit sagt", sagt zum Beispiel Christina, 27, die auf die Demo gekommen ist, weil sie eine Reform des Sexualstrafrechts fordert. Wie die anderen will sie, dass die "Nein-heißt-nein-Regelung" ins Sexualstrafrecht aufgenommen wird. Christina ist froh um die breite Öffentlichkeit, die so eine Forderung durch den Fall von Gina-Lisa Lohfink bekommt. Dass sie die Vergewaltigung nicht sofort meldete, macht Lohfink in Christinas Augen nicht weniger glaubwürdig: "Ich kann mir gut vorstellen, dass es eine Weile dauert, bis es bei einem ankommt, dass das kein einvernehmlicher Sex war."
Wir sind hier, das darf man niemals vergessen, auf einem Feld, auf dem auch Sprache bereits eine brutale Waffe sein kann
Ronska Verena Grimm tritt jetzt ans Demo-Mikrofon. Sie ist Anwältin und vertritt Menschen, die sexuelle Gewalt erfahren haben. Ihre Erfahrung zeigt, dass es durchaus nicht ungewöhnlich ist, eine Vergewaltigung nicht sofort anzuzeigen: "Nach einer Vergewaltigung verhält man sich oft nicht so stringent, wie das von den Medien und Gerichten erwartet wird." Und selbst wenn man sich traut, zur Polizei zu gehen, könne man ja nicht unbedingt mit einem Erfolg rechnen: "Nur acht Prozent der Täter werden verurteilt, da ist es doch kein Wunder, dass man sich überlegt, ob es sich lohnt, die anstrengenden Prüfungen auf sich zu nehmen, die auf eine Anzeige folgen."
Die Angst vor einer Retraumatisierung durch das langwierige Verfahren halte viele davon ab, eine Vergewaltigung anzuzeigen, sagt Grimm weiter. Sie erzählt, dass es von den Gerichten sogar negativ bewertet wird, wenn die Betroffenen vor der Hauptverhandlung eine Therapie machen, weil sich dadurch die Erinnerung ändern könnte. Von "Vergewaltigungsopfern" spricht Grimm ganz bewusst nicht. "Das empfinden manche Betroffene als stigmatisierend. Spätestens seit Kachelmann den Begriff 'Opfer-Abo' geprägt hat." Wir sind hier, das darf man niemals vergessen, auf einem Feld, auf dem auch Sprache bereits eine brutale Waffe sein kann.
Grimm möchte statt „Opfer“ deshalb lieber "verletzte Personen" sagen. Um klarzumachen, dass eine Vergewaltigung nichts ist, das einem bestimmten Opfertyp passiert. Es kann jedem passieren. In ihrem Redebeitrag erwähnt Grimm die Ergebnisse einer Studie von Joanna Lovett und Liz Kelly aus dem Jahr 2009: "Die Falschbeschuldigungen bei Vergewaltigungen liegen bei drei Prozent. Dass Frauen Männer massenweise falsch beschuldigen, ist ein Mythos!"
Das ist die argumentative Seite. Zahlen, Studien, Rationalität. Die andere, die emotionale, die, auf der die Fronten hart werden und die Themen ekelhafter, brandet jetzt wieder heran, als eine der Organisatorinnen Neuigkeiten aus dem Gerichtssaal meldet: "Dort sind mehrere Männer, die herumposaunen, dass sie das Video gesehen hätten und geil finden." Und wenn das so stimmt, dann ist der sehr abstrakte Begriff "Vergewaltigungskultur", in der Opfer zu Tätern erklärt und Vergewaltigungen verharmlost werden, plötzlich sehr, sehr lebendig geworden.
Aber man weiß eben so schrecklich selten, was stimmt, bei diesen Themen. Und wo die Fakten fehlen, ist eben viel Platz für Emotionen. Für Annahmen. Für Subtext. Für Positionen, die immer weiter auseinanderdriften. Und damit wieder eine Art Gleichgewicht bilden? Wahrscheinlich eher nicht.
Rojanka Verena Grimm findet jedenfalls, dass es Sinn hat, den Fall von Gina Lisa Lohfink zu nutzen, um über eine Reform des Sexualstrafrechts zu sprechen. Trotz der Unklarheiten, die es noch gibt. Eine Reform des Sexualstrafrechts ist absehbar. Und das ist richtig. Denn selbst wenn die Richterin Lohfinks "Nein!" als Absage an den Sex verstanden hätte, hätte das nach geltendem Recht nicht unbedingt zur Folge gehabt, dass die Tat als Vergewaltigung eingestuft wird. Weil momentan ein "Nein" noch nicht ausreicht. Wer aber die Geschichten von Betroffenen hört, die an diesem Morgen vorgelesen werden, der versteht, dass eine Vergewaltigung das ganze Leben verändert. Zum Beispiel für ein sechszehnjähriges Mädchen, das sich nach einer Vergewaltigung zunächst einmal nicht traute, seiner eigenen Mutter davon zu erzählen. Wer diese Geschichten hört, versteht, dass alle Menschen vor Vergewaltigungen und nach Vergewaltigungen geschützt werden müssen. Mit allen rechtlichen Mitteln. Und vielleicht manchmal auch mit ein paar emotionalen.