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Der Partykeller der Eltern ist das Berghain der Dorfjugend

Illustration: Federico Delfrati

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Ich bin in einem Neubaugebiet auf dem Dorf aufgewachsen, wie es eigentlich überall in Deutschland stehen könnte. Ein Klinker-Fertighaus reihte sich an das nächste, an der Straße ein „Achtung Kinder“-Schild und vor jedem Haus ein Carport. Ich würde gerne behaupten, dass ich dort eigentlich schon immer rauswollte. Dass ich schon mit zwölf Jahren verstanden habe, wie eng es dort ist und wie viel besser ein Aufwachsen in einer Großstadt wie Berlin, Hamburg oder München doch sein müsste.

Das stimmt aber nicht. Tatsächlich hat mir auf dem Land sehr lange nichts gefehlt. Und das lag an einer Institution in unserer Nachbarschaft, mit der viele Menschen aus Städten, in denen Clubs und Bars sich anstatt Carports aneinanderreihen, gar nicht in Berührung gekommen sind: am Partykeller.

Ein Partykeller ist quasi die Safe-Space-Version einer Tanzbar: Es gibt dort in der Standard-Ausstattung eine Theke, Barhocker und Alkohol, oft in großen Flaschen an der Wand und noch öfter der Marke Bacardi. Aber anstatt Laufpublikum dürfen nur geladene Gäste den Partykeller betreten, die Besitzer sind quasi Barmann und Türsteher in einem. Weshalb der Partykeller der perfekte Ort zum behutsamen Erwachsenwerden ist.

Tatsächlich war ich bei meiner ersten Begegnung mit einem Partykeller ungefähr sechs Jahre alt. Er gehörte den Eltern der Nachbarskinder, die Polster der Barhocker waren türkis-lila-marmoriert, denn so mochte man das eben in den 90ern. Die Wände waren holzvertäfelt, rückblickend bin ich mir allerdings nicht sicher, ob es nicht einfach Folie war, die Holz imitieren sollte. Der Partykeller war der Stolz unserer Nachbarn. Sie hatten ihn selbst gebaut und luden dort regelmäßig die Nachbarschaft zu Feiern ein. Dann gab es Bier vom Fass aus dem Getränkemarkt und Cocktails mit Kokosmilch, man spielte Darts und Schlager. Tagsüber durften wir in dem Keller verstecken spielen, unseren Mini-Playback-Auftritt als Tic Tac Toe üben und mittelgute Filme drehen. Abends war der Partykeller tabu. Geschlossene Gesellschaft, nur für Erwachsene. Was es natürlich nur interessanter machte.

Unsere Eltern ließen uns dabei weitestgehend in Ruhe – sie mussten sich ja auch keine Gedanken darüber machen, wo wir sind 

Mit 13 oder 14 änderten sich die Regeln. Auf einmal standen die Kinder der Nachbarn an der Theke und wir selbst saßen auf den Barhockern. Wer einen Partykeller hatte, hatte auf einmal automatisch ziemlich viele Freunde. Denn auf dem Dorf, wo das Schützenfest die Hauptattraktion des Jahres war, war der Partykeller unser persönliches Berghain. Nur wer reinkam, gehörte wirklich dazu. Dass die Tanzfläche aus Laminat von Obi und die Lichteffekte von einer Zehn-Euro-Diskokugel vom Saturn kamen – egal. Wir machten uns für diese Abende zurecht wie für einen echten Club, oder das, was wir uns darunter vorstellten. Mit Lipgloss, bauchnabelfreien Tops und Jeans, die knapp unterhalb des Steißbeins anfingen. Unsere Eltern ließen uns dabei weitestgehend in Ruhe – sie mussten sich ja auch keine Gedanken darüber machen, wo wir sind und wie wir wann nach Hause kommen. Denn entweder war der Partykeller fußläufig erreichbar oder man schlief einfach irgendwann dort auf dem vollgerauchten Sofa ein – um am nächsten Morgen mit Edding im Gesicht den Heimweg anzutreten.

Aber auch später, als ich tatsächlich alt genug für die richtigen Clubs in der nächsten Großstadt war, blieb der Partykeller eine wichtige Institution in meinem Leben. Ein guter Freund aus der Oberstufe hatte nämlich einen Keller, der noch weitaus besser ausgestattet war als der unserer Nachbarn. Dort gab es zwar keine Theke, aber einen Billardtisch und, so dachte ich zumindest damals, diverse dunkle Ecken in den Nebenräumen. Es war einfach der perfekte Ort um den Jungen, den man schon lange toll fand, bei einem lockeren Spiel erst besser kennenzulernen und dann gut beschwipst klarzumachen. In diesem Partykeller wurden so viele Beziehungen begründet, aber auch Streits ausgetragen und Affären aufgedeckt, sein Besitzer hätte für das Drama-Programm Eintritt nehmen sollen. Allein, wie häufig ich mich dort mit Freundinnen in einer winzig kleinen Toilettenkabine eingesperrt habe, um wechselweise zu heulen oder zu lästern, hätte Stoff für eine öffentlich-rechtliche Telenovela geboten. Keine echten Probleme, aber davon viele. Anders als in einem Club mit Fremden hat das aber nie jemand ausgenutzt. Im Gegenteil: Wenn jemand heulte oder völlig stramm war, gab es immer eine Gruppe, die sich kümmerte und die Person tröstete oder ins Bett brachte. Es kam auch nie jemand auf die Idee, uns dort rauszuwerfen oder gar Hausverbot zu erteilen. Gab es Probleme, wurden die im Partykeller gelöst. Wer Stress machte, wurde gar nicht erst eingeladen.

In der Stadt kenne ich niemanden mit Partykeller

Wie es meist im Leben läuft, zogen wir irgendwann alle weg aus dem Dorf, um in einer Stadt eine Ausbildung oder ein Studium anzufangen. Die meisten sind dort geblieben, auch ich. Hier kenne ich niemanden mit Partykeller und zugegebenermaßen erscheint es mir in Zeiten bizarr hoher Mieten auch als großer Luxus, im Keller eine Freifläche zum Saufen bereitzuhalten. Dafür geht man jetzt in Bars und bezahlt zehn Euro für einen Gin-Tonic, der in unserem Partykeller sehr viel mehr Gin enthalten hätte. Man betreibt gepflegte Konversation und am Ende gehen alle ohne Edding im Gesicht nach Hause. Vermutlich ist das echtes Erwachsensein, nur mit dem Unterschied, dass wir, anders als meine Eltern, eben keine Nachbarn haben werden, mit einem Keller mit Kokoscocktails und Darts. Wie echte Städter werden unsere Kinder irgendwann mit viel mehr Auswahl zum Feiern erwachsen werden – aber eben auch weniger behütet. Ein bisschen wehmütig macht mich das schon.

Vor wenigen Jahren ist die Familie meines Freundes übrigens aus dem Haus mit dem Partykeller ausgezogen. Zu diesem Anlass haben wir uns alle noch einmal nostalgisch getroffen. Haben Billard gespielt, billigen Alkohol getrunken und auf den verrauchten Sofas getanzt. Nur heulend auf dem Klo hat sich keiner mehr eingeschlossen. Erst bei diesem Treffen wurde mir klar, dass die Ecken in dem Keller gar nicht so dunkel waren, wie ich immer gedacht hatte. Und dass man im Obergeschoss, wo seine Eltern wohnten, auch sehr viel mehr hören konnte, als ich mir das vorgestellt hatte. Ich habe mich kurz ein bisschen geschämt. Bis mir wieder einfiel: Was im Partykeller passiert ist, bleibt eben auch dort.

 

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