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Warum wird das Telefon immer noch besungen, obwohl niemand mehr telefoniert?
Heute ruft sich keiner mehr an. Es geht sogar das Gerücht, dass wir das Telefonieren verlernt oder hassen gelernt haben. Ob das stimmt, sei dahingestellt, in jedem Fall schreiben wir uns heute lieber Nachrichten. Da wundert es schon sehr, dass zwei aktuell sehr erfolgreiche Songs uns wieder was vom Telefonieren erzählen: "Hotline Bling" von Drake und "Hello" von Adele. Hat die Popkultur da irgendeinen Knall nicht gehört?
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Carly Rae Jepsens Song "Call Me Maybe" war 2011 gerade noch so auf der Höhe der Zeit, ab und zu hat man sich damals noch angerufen – aber eigentlich hätte auch sie schon "Text Me Maybe" singen müssen. Und heute, im Jahr 2015, erst recht. Darum wirken Adeles Lyrics unfassbar aus der Zeit gefallen: "So hello from the other side / I must have called a thousand times / ... / But when I call you never seem to be home". Dass der Mensch, den sie erreichen will, anscheinend nie "zu Hause" ist, suggeriert ja noch dazu, dass sie ihn auf einem Festnetztelefon anruft.
In dem Musikvideo zur Single, das seit der Veröffentlichung am 22. Oktober auf Youtube schon mehr als zweihundert Millionen Mal angeschaut wurde, hält Adele sich erst an einem Klapp-Handy und dann am Hörer eines altmodischen Telefonapparates fest. Und ihr Gegenüber hat ebenfalls ein Klapp-Handy. (Der britische Naturdokumentarfilmer David Attenbourough geht in seiner lustigen Nacherzählung der eröffnenden Videosequenzen auf diese Anachronismen ein: "She hasn't upgraded her handsets since 1999 – Hashtag flip phone!")
Drake besingt ebenfalls einen Anruf: "You used to call me on my cellphone / Late night when you need my love". Immerhin hat er ein Handy und singt nicht "You used to call me on my landline". Aber auch er erwähnt keine Textnachrichten, keinen Messenger und keine SMS. Was ist da los? Vielleicht ist es Faulheit. Seit Jahrzehnten ist das Telefon in der Popkultur das Symbol für verpasste und manchmal auch gelungene Verbindungen, für Liebe und Liebeskummer, vor allem in der Musik.
Ein paar zufällig ausgewählte Beispiele:
"Ring, ring, why don't you give me a call? Ring, ring, the happiest sound of them all. Ring, ring, I stare at the phone on the wall"
"Call me, call me anytime"
"I just called to say I love you"
"Pick up the phone and answer me at last"
"Hello, hello, baby, you called? I can't hear a thing, I have got no service in the club, you see"
Warum also etwas daran ändern, solange es noch alle verstehen? Und warum sich was Neues ausdenken, wenn "call" ein Wort ist, das sich gut singen lässt, lang wie kurz, und das sich auf vieles reimt? "Text" ist dagegen ja eher sperrig und ein gutes Reimwort ist es auch nicht – eine kurze Recherche in einem Online-Reimlexikon ergab 100 Reimwörter für "call" und nur 35 für "text" (und die meisten davon auf diesem Niveau: "coded text", "hyper text", "main text").
Vielleicht ist der Grund aber auch: Romantik. Vielleicht ist Telefonieren das neue Briefeschreiben. Eine Kommunikationsform, an der man in romantischen Geschichten festhält, weil sie so intensiv wirkt. Eigentlich sind wir ja schon soweit, dass ein Anruf etwas ganz Besonderes ist. So wie es im Telefonzeitalter eine besondere Aufmerksamkeit war, wenn sich jemand hingesetzt und dir einen Brief geschrieben hat, ist es heute ein Zeichen großer Zuneigung, wenn jemand dich einfach so anruft. Je altmodischer das Telefonat wird, desto stärker wird seine Symbolkraft. Auch und gerade in Geschichten und Songs. Und vielleicht wissen Adele und Drake auch einfach, dass es vorbei ist mit der Telefoniererei. Sie wissen, dass sie von Gestern singen.
"You used to call me on my cellphone", das klingt ja auch sehr nach "aber jetzt nicht mehr (jetzt schreibst du nur noch Nachrichten)". Und dass Adeles Typ nicht ans Telefon geht, liegt möglicherweise daran, dass kaum noch jemand ans Telefon geht. Schon gar nicht ans Festnetztelefon.