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Ist „Last Christmas“ guter Pop oder kitschiger Schrott?

Illustration: Daniela Rudolf

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Die (Vor-)Weihnachtszeit ist voll von kleinen Ritualen und großen Traditionen. An ihnen scheiden sich jährlich die Geister: Die einen hassen den Trubel rund um das Fest, die anderen genießen nichts mehr. Und „Last Christmas“ befindet sich da genau auf der Frontlinie.

Für Quentin ist „Last Christmas“ eine großartige Pop-Ausnahme im Meer von Beschissenheit:

Bei einem sind wir uns sicher einig: Der vorweihnachtliche Konsumterror, eingepackt in eine Kitschmasse aus Billigglühwein und Plastiktannen, der ist ist wirklich schrecklich. Er ist austauschbar, kalt, berechnend, das Gegenteil vom besinnlichen Weihnachten – was auch immer das nochmal war. Und natürlich läuft da viel Schrottmusik im Kaufhof an Spät-Dezember-Tagen: Fade Oden an Schnee, Schlitten oder Menschen, die man ganz dringend unterm Weihnachtsbaum wegvögeln muss. Musikalisch immer penetrant fröhlich, Bimmelglöckchen galore. Der berechtigte Hass auf all diese spätkapitalistischen Kaputtheiten entlädt sich aber immer an einem Lied: „Last Christmas“ von Wham! – und das völlig zu Unrecht.

Pro-Wham! zu argumentieren ist verdammt einfach und sollte eigentlich jedem sofort einleuchten, der auch nur ein verdammtes Mal genauer hingehört hat. Man kann dabei sogar gänzlich unironisch bleiben und noch dazu so viel schlauer als die Idioten, die auf der Suche nach Stammtisch-Bestätigung mit ihren ach so feinen Öhrchen kokettieren, die ja schon bei den ersten Tönen besagten Songs „total den Ohrenkrebs“ bekommen – obwohl sie ihre Distinguiertheit in puncto Musik sonst gerne mit „ich mag eigentlich alles“ beschreiben und auf Partys höchstens ironisch zu 90er-Müll tanzen können.

Ich hingegen sage: „Last Christmas“ ist im Meer von Beschissenheiten der Vorweihnachtszeit eine großartige, tiefgründige Pop-Ausnahme. Da gibt es zwar auch ein bisschen Gebimmel, aber eben nicht so ein verkrampft-beschwingtes wie in etwa bei „All I Want for Christmas Is You“. Zwischen die maschinellen Beats aus der Drummachine und auf den ersten Blick doch eher heitere Dur-Harmonien haben sich zwei Mollakkorde geschlichen. Darüber wehklagt George Michael seine traurige Erfahrung, sein Herz an diesem einen Weihnachten dem falschen Menschen geschenkt zu haben. Und dass ihn dieses Trauma nun immer wieder heimsucht, dass er verzweifelt versucht, mit „someone special“ jemanden zu finden, der seine Liebe verdient hat. Und dabei genau weiß, dass die zu Unrecht beschenkte Person ihn jederzeit wieder einlullen könnte mit seinen falschen Versprechen.

Damit fängt Michael genau das Gefühl ein, dass jeder junge Weihnachtsheimkehrer kennt: Eine tiefe Melancholie, ein alljährlich wiederkehrendes Umkreisen eingebildeter oder verpasster Chancen und Fehler, das Wiedersehen mit einem früheren Ich oder dem früheren Anderen. Die ständig dröhnende Präsenz der Vergangenheit in jeder Ritze des Heimatortes, in den Gesichtern der Verwandten, der alten Freunde und eben auch Liebschaften.

Und genau wie das beschriebene Gefühl sich eben nicht abschalten lässt und verlässlich zum Jahresende zurückkehrt, ist es auch nur konsequent, dass „Last Christmas“ seit Jahrzehnten die Weihnachtszeit einläutet. Ein solch komplexes Gemenge an Empfindungen in vier Minuten zu packen und damit noch dazu einen ewigen Hit im seichten Mainstream zu landen – mehr kann man im Pop nicht leisten.

Friedemann könnte bei „Last Christmas“ in Tränen ausbrechen:

George Michael war ein großer Künstler. Er machte nur einen Fehler. Genau, ich meine jenes Weihnachtsliebeslied. Wobei ihm dieser eine schlechte Song verziehen sei. Er kann nämlich nur bedingt etwas dafür, dass es seit einigen Jahren zu einem Wettbewerb geworden ist, so früh im Spätherbst wie möglich mittels „Last Christmas“ anzuzeigen, dass man weiß, dass bald Weihnachten ist. Dass man es nicht ernst nimmt, aber doch irgendwie voll schön findet.

Damit steht Last Christmas stellvertretend für den ekelhaften Trend der Postmoderne, mit Emotionen und Kitsch nicht mehr umgehen zu können, weil peinlich, gleichzeitig aber auch nicht ohne zu können, weil menschlich, und die Emotionen und den Kitsch dann mittels maximal schlechtem Geschmack in die Welt zu ventilieren.

Es schmerzt zudem, dass Großraumbüro-DJs die epochemachende Pop-Band Wham! nur von der im Mediamarkt erstandenen „Best of Weihnachts-Hits“ Doppel-CD kennen, und George Michael für sie immer der unrasierte Typ mit der Nikolausmütze sein wird. Nicht die gebrochene Ikone einer unterdrückten Avantgarde, nicht die Stimme eines Lebensgefühls zwischen „Faith“ und „Freedom“.

Wenn Mitte November die erste Kollegin fragt, ob es „jetzt wohl schon okay“ sei, Last Christmas zu hören, dann ist das aber nicht nur maso-ironische Koketterie, sondern auch eine bedingungslose Kapitulation. Nämlich die Kapitulation des Individuums, das nach einem weiteren schmerzhaften Jahr der Vereinzelung wenigstens einen guten Monat der kollektiven Geschmacksnerv-Betäubung will. Es ist die Kapitulation einer vermeintlich säkularen Gesellschaft vor den Narrativen der Vormoderne. Und es ist die Kapitulation des menschlichen Gehirns vor der Gewohnheit. Alles genau das Gegenteil von dem, wofür George Michael lebte.

Eine Gesellschaft, die jedes Jahr wieder „Last Christmas“ abfeiert, hat einen wie ihn gar nicht verdient. Wenn George Michael das gewusst hätte, ich bin mir sicher: Er hätte sein Herz jemand Einzigartigem gegeben.

Der Text wurde erstmals am 07.12.2017 veröffentlicht und am 18.12.2020 nochmals aktualisiert.

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