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Foto: Michael Kohls

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"Liebes Facebook, hiermit gründe ich eine Jugendbewegung." Das postete eine junge Frau einen Tag nach der US-Wahl. Viele von uns dachten damals wie sie. Wir likten, kommentierten, teilten. Am nächsten Tag hatte der Post Tausende Reaktionen angestoßen. Man muss doch etwas tun, sagten wir. Nur was? Mit wem? Wie bewegt man 2017 als junger Mensch etwas? Vielleicht gründet man eine Jugendbewegung? Aber wie geht das?

Zuerst muss man sich, wie die junge Frau damals, gegen den Trend stellen. Das Engagement junger Menschen in politischen Organisationen geht seit Jahrzehnten zurück. Ein Grund ist: Wir wollen uns nicht mehr langfristig binden, schon gar nicht an eine Organisation mit wöchentlichem Stammtisch voller Grundsatzdiskussionen. Vielleicht ist sogar die Demokratie an sich in der Krise. Laut einer Studie von YouGov sind nur noch 52 Prozent der jungen Europäer von der Demokratie als bester Staatsform voll überzeugt. Wer hat gegen diese junge Demokratiemüdigkeit heute noch eine Chance? 

Vielleicht: Kleiner Fünf, Pulse of Europe und Demo. Alle diese Bewegungen entstanden 2016 als Reaktion auf die Wahlerfolge der Rechtspopulisten von der Trump-Wahl bis zum Brexit-Referendum. Demo ist unter ihnen vielleicht die spontanste, simpelste, naivste. Und die vollmundigste. "Lasst uns Demokratie machen. Lasst uns demonstrieren gehen. Lasst uns die Dämonen demontieren", schrieb Demo-Gründerin Mareike Nieberding, die junge Frau, in ihrem Facebook-Eintrag nach Trump. Und sofort berichteten alle Zeitungen, Plattformen, Jugendmagazine über sie. Kurz darauf saß sie in den Talkshows der Nation. Im Winter, bevor auch nur so etwas wie eine Organisationsstruktur stand, konnte man glauben, dass da jemand mit einem Post die politische Seele der deutschen Jugend gerettet hatte. Oder dass zumindest ein paar romantische Journalisten das gern glauben wollten. Die Sehnsucht nach Aufbruch war groß. Nieberding gab ihr ein Gesicht.  

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Mareike Nieberding hat Demo gegründet. „Lasst uns die Dämonen demontieren“, schrieb sie im initialen Facebook-Post dazu. Aber was sind die richtigen Werkzeuge dafür?

Foto: Jonas Feige

Acht Monate nach ihrem berühmten Post sitzt Mareike Nieberding in einem Stuhlkreis mit 15 Schülern, alle um die 18 Jahre alt. Hier ist sie nicht die junge Wilde, sondern mit ihren 29 Jahren die Älteste. Sie fragt: "Und, was nehmt ihr heute mit?" Zwei Stunden lang haben sie und ihre Mitstreiter mit Schülern einer ­Montessori-Oberschule in München über Politik gesprochen, sich nicht entmutigen lassen vom anfänglichen Desinteresse ("Politik ist scheiße!" oder auch "Jede Partei will neben guten Sachen auch irgendeinen Mist, das ist scheiße!"). Sondern Themen gefunden, die die Jugendlichen bewegen. Zu denen sie eine starke Meinung haben. Bildung, Einwanderung, Drogen. Eher nicht: Gesundheit oder Wirtschaft. Das ist das konkrete Ziel von Demo: Junge Menschen zur Politik und letztlich zum Wählen zu bringen. Bei der vergangenen Bundestagswahl und dem Brexit-Referendum zeigten die Jungen die schwächste Wahlbeteiligung. Vermutlich aus den üblichen Gründen: Keine Ahnung, was man mit einer Stimme bewegen kann, und schon gar keine, wen man wählen soll.

Also spornt Mareike Nieberding heute 18-Jährige an, für den Workshop eigene Parteien zu gründen. Lukas, 18, CSU-Sympathisant, stellt seine "Free Rainbow Party" vor. Sofort wird er mit ­seinem Parteiplakat abfotografiert, "für unsere Social-Media-Kampagne, super", sagt eine Demo-Aktivistin. Alles wird hier ­dokumentiert und verwertet, Instagram, Facebook und zurück.

Man kann ihnen diese konsequente Nutzung von Social ­Media vorwerfen, das Begleiten von jedem Medientermin auf Insta­gram und Snapchat, das reflexhafte Eindampfen von Politik in Postings. Aber dieses magische Etwas namens "Zielgruppe", das von Werbern, Politikern und Journalisten gejagt wird – "die sind nun mal auf Instagram und Snapchat, und warum sollten wir dann nicht dort sein?", fragt Nieberding zurück. Hätte eine Jugendbewegung ihren Namen verdient, wenn sie nicht auf allen Wegen versuchen würde, Jugend zu bewegen? Und sei es mit hübschen Mädchen in Demo-Pullis, und auch das kann man ihnen vorwerfen, also nicht die Pullis, sondern dass sie sie schon zum Kauf in einem Shop angeboten haben, dazu Poster und Grafiken mit Pathosparolen wie "Love Trumps Hate" oder "Don’t be an echo, be a voice", und das alles, bevor sie mit einem einzigen Schüler geredet hatten. Man kann sich aber auch fragen, wie eine Jugendbewegung 2017 aussehen soll, wenn nicht gut und frisch, und warum sie nicht am Körper getragen werden sollte, wo es doch keine politischen Jugendkulturen und damit auch keine politischen popkulturellen Uniformen mehr gibt wie in grauer Vorzeit noch Springerstiefel (je nach Schnürsenkel links oder rechts) oder Palästinensertücher. 

Die Sehnsucht nach Aufbruch war groß. Mareike gab ihr ein Gesicht.

Aber bei allem Marketing kann man Nieberding sicher nicht vorwerfen, dass sie letztlich nicht dahin ginge, wo es wehtut. Heute, in der Montessori-Oberschule, ist die Klientel etwas aufmüpfig und muss immer wieder zur Ruhe ermahnt werden ("Hey, Leute!"), zeigt sich ansonsten aber so liberal wie die Aktivistinnen, kann beim Parteien-Memory erstaunlich stilsicher linke und rechte Forderungen unterscheiden und ist insgesamt etwas träge, aber wohlerzogen. Nur: Sind die hier wirklich das Problem? Ein paar gelangweilte, aber gut informierte 18-Jährige?

"Neulich in der Berufsschule in Hamburg war das ein bisschen rougher", lacht Nieberding. "Aber umso spannender. Als wir mit denen bei der Zeit waren, prallten Welten aufeinander. Aber darum geht es ja." Nieberding will auch die Lücke zwischen Medien­ und Menschen schließen. Jugendliche in Zeitungsredaktionen bringen, um zu zeigen, wie die vierte Gewalt arbeitet. Aber müsste man nicht noch mehr zu den minderprivilegierten, den sogenannten angeblich Abgehängten gehen? "Das wäre konsequent", sagt Nieberding. "Ich würde gern noch mehr in Richtung Gesamt- und Berufsschulen mobilisieren. Aber ich kann ja auch niemandem verbieten, an einem Gymnasium einen Workshop zu halten."

An der Montessori-Schule endet der Projekttag versöhnlich. CSU-Lukas hat gemerkt, dass die Christsozialen gar nicht seine Position vertreten, aber bleibt dabei, "dass die das schon okay schaukeln". Andere konnten ihre subjektive Unsicherheit, "das ­gerade bei Mädchen verbreitete Gefühl, mit einer falschen Wahl etwas kaputt machen zu können", wie Nieberding es beobachtet, immerhin ausdrücken. Ob die Wahlbeteiligung unter den jungen Menschen dadurch wirklich steigt? "Immerhin redet man mal wieder miteinander", findet eine Aktivistin, "das passiert ja sonst nicht." Dafür bekommen sie inzwischen einzelne Förderungen von Stiftungen. Ansonsten finanziert sich Demo von Spenden. Alles soll möglichst niedrigschwellig bleiben, vor allem die Aktionen. "Mit einer coolen Ausstellung oder einer Facebook-Kampagne erreiche ich die Desinteressierten sicher nicht", sagt Nieberding. 

Mit Demonstrationen, ganz altmodisch auf der Straße, vielleicht schon eher. Jedenfalls, wenn es um Europa geht. Pulse of Europe heißt die Bewegung, die zuletzt mehr Menschen mobilisieren konnte als jede andere der letzten Jahre. Ihr einfaches Bekenntnis: Ja zu Europa. "Nach dem Schock von Trump und Brexit wollten wir zeigen, dass wir für ein vereintes Europa einstehen müssen", sagte ihr Gründer Daniel Röder im ARD-Morgen­magazin. Seit dem 15. Januar gehen die Menschen in vielen Städten Europas dafür auf die Straße. Erst jeden Sonntag, dann jeden ersten Sonntag im Monat. Als Test hatte Röder eine Mail an seinen Freundeskreis geschrieben. 200 kamen. Also organisierten er, seine Frau und ein paar Helfer Handzettel, Facebook-Gruppen, Sound­anlagen. Die Bewegung wuchs. Bis irgendwann 30 000 in ganz ­Europa kamen.

Pulse of Europe ist nicht speziell jung. Röder selbst ist 44, "alle Altersgruppen und Milieus sind dabei". Aber Europa, das scheint schon ein junges Thema zu sein. Im Beitrag des Morgenmagazins kommen überwiegend junge Demonstranten zu Wort. "Europa darf man doch nicht einfach so aufgeben", sagt eine. Wie wichtig diese Union gerade für diejenigen ist, die damit aufgewachsen sind und sie deshalb vielleicht für selbstverständlich halten, formulierte Entertainer Klaas Heufer-Umlauf in einer Talkshow: "Jetzt ist die beste Zeit, einen Pulse of Europe und überhaupt eine europäische Identität zu entwickeln … Wenn wir aber Europa kaputt machen, sind wir die dümmste Generation, die je gelebt hat." Mindestens bis zur Bundestagswahl wollen Röder und die ­anderen also für Europa Flagge zeigen. Ein so großes gemein­sames Ziel, eine bekannte "Marke" mit dem EU-Banner, das zieht. Pulse of Europe hat ein "Dafür". Aber wie gut funktioniert ein ­"Dagegen", ein gemeinsames Feindbild? 

Kleiner Fünf hat eine Zahl im Auge: Die AfD soll bei den Bundestagswahlen am 24. September weniger als fünf Prozent der Stimmen bekommen. Also nicht in den Bundestag einziehen. Aber ist das Arbeiten gegen eine Partei ein gutes Ziel für eine Bewegung? Ja, findet Paulina Fröhlich, 25. "Der Einzug in den Bundestag würde bedeuten, dass die AfD noch mehr Aufmerksamkeit, vor allem aber Geld und institutionelle Hilfe bekommt", sagt sie. Und gleichzeitig würden sich viele Menschen zurecht noch unwohler fühlen, "weil eine Partei, die beispielsweise deren Sexualität oder Religion diskriminiert, im Hohen Haus der Bundesrepublik sitzt." Die Grenze des Sagbaren würde sich weiter verschieben. Menschenfeindlichkeit würde salonfähig.

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Den Gründern von Kleiner Fünf wie Paulina Fröhlich war sofort klar: Wenn sie etwas erreichen wollen, muss das Ganze cool sein, auch im Design. So wie der „Wahlantrag-Ring“: Freunde sollen einander damit zum Wählen animieren.

Foto: OH

Also: Kleiner Fünf. "Als wir im vergangenen August zusammenkamen, fühlten wir uns ein bisschen wie eine junge Band, die einen Namen sucht." Schnell war ihnen klar: Es soll ein großes, aber konkretes Ziel sein. Eines, das im Namen steht. "Und dazu ein bisschen cool ist, auch im Design. Statt immer nur abends zu reden und morgens doch wieder nichts zu ändern, wollten wir etwas Griffiges haben." Heute sind sie über 150 Aktive. Paulina selbst ist eine von zwei Festangestellten. Finanziert wird Kleiner Fünf durch Spenden und Stiftungen für politische Bildung.

 

"Es geht aber nicht nur um diese Wahl", findet Paulina. "Wir wollen, dass sich jeder Einzelne fragt: Was geht mich Rechtspopulismus an? Was kann ich dagegen tun?" Und zwar mit "radikaler Höflichkeit", wie sie es nennen. "Also durch Dialog im Alltag, im Freundeskreis, aber besonders eben auch mit Rechtspopulisten und ihren Anhängern." Dafür setzt Kleiner Fünf auf Aufklärung. Ein Facebook-Bot bietet Antworten für Diskussionen mit Wutbürgern. Ganz simple Entgegnungen, zum Beispiel gegen die Angst vor "Überfremdung" oder "Islamisierung". Auch Leitfäden für analoge Gespräche gibt es. Das Motto: Miteinander reden hilft.

 

Dass möglichst viele Menschen wählen, ist auch ihnen wichtig. "Deshalb haben wir den Wahlantrag-Ring gecrowdfundet", sagt Paulina. Man kann diesen kleinen Ring Freunden schenken, um sie damit zum Wählen zu animieren. Solche handfesten Aktionen ziehen mehr Mitstreiter an. "Wir schicken Mails an alle Inte­ressierten raus, mit ganz konkreten, mitunter sehr kleinen Vorschlägen, was man machen kann. Manchmal ist es nur ein Poster, das wir jemanden bitten aufzuhängen."

 

Sind ein paar gelangweilte, aber gut informierte 18-Jährige wirklich das Problem?

 

Und was macht Paulina in der Wahlnacht, wenn die AfD 4,7 Prozent bekommt? "Wir werden eine Wahlparty schmeißen. Wenn die AfD nicht reinkommt, tanzen wir die Nacht durch. Und am nächsten Tag arbeiten wir weiter. Aber nicht mehr in diesem Notfallmodus." Und bei 14,7 Prozent? "Dann tanze ich die Nacht trotzdem durch. Und frage mich am nächsten Tag: Was haben wir falsch gemacht?" Vermutlich trotzdem nicht so viel. Denn sie, Mareike Nieberding und Daniel Röder haben immerhin etwas gemacht. 

 

"Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich", schrieb der Soziologe Max Weber 1919 in Politik als Beruf, und wird fast täglich damit zitiert. Immer wenn etwas nicht vorangeht, heißt es: So ist eben Politik. Nervt. Langweilt. Bringt ja eh nichts. Und deshalb hat man als junger Mensch Besseres zu tun. Was Quatsch ist. Und gefährlich.

 

Und so ist die wichtige Lehre aus Demo, Kleiner Fünf, Pulse of Europe und all den anderen auch nicht, dass Politik eben doch geht, wenn man jung ist. Dass Engagement zwar anstrengend ist, aber sich lohnt, wenn sich ein paar zusammentun. Sondern, dass es so verdammt wenige sind, bei Demo momentan um die 150. Und wie verrückt es ist zu glauben, die Welt könnte von diesem einen Prozent gerettet werden. "Läuft doch alles", sagt Lukas in der Montessori-Schule und schaut zufrieden in die Runde. Mareike Nieberding erwidert: "Und wie lange noch?"

Niemand antwortet.

 

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