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Wie viel Narzissmus ist gut für mich
Ein Blick auf die aktuelle Hitparade der Beschimpfungen: Erst kommt der Nazi. Dann der Narzisst. Beides zielt auf böse Männer mit Weltzerstörungspotenzial. Trump, Erdogan, Putin – die prominenten Narzissten, sie bedrohen die Welt. Und der Narzissmus an sich, finden Bestseller-Autoren wie Michael Nast ("Generation Beziehungsunfähig“) oder Hans-Joachim Maaz („Die narzisstische Gesellschaft“), er bedroht die Liebe, unser Zusammenleben und den ganzen Rest. Wo Trump Atomraketen als Hebel für sein Ego nutzen will, sind der Selfie-Stick und das Facebook-Profil sozusagen Rakete und Oval Office des kleinen Mannes. Er giert so sehr nach Likes und Liebe, dass er rücksichtslos und asozial wird. Und: Wir alle sind angeblich so. Deshalb wird kaum eine Mode-Diagnose heute so inflationär verwendet wie die vom Narzissmus. Und so widersprüchlich.
Denn einerseits wird Narzissmus als großer psychischer Defekt unserer kranken Zeit sozial geächtet und therapiert. Und andererseits geht es nicht ohne Narzissmus, der als Selbstvertrauen, Willensstärke, Individualität sozial akzeptiert oder gar gefördert wird. Ein gesundes Maß an Egozentrik aka „Achtsamkeit" gehört heute zur privaten wie beruflichen Entwicklung. So wie Benzin den horizonterweiternden Road Trip erst ermöglicht, treibt uns unser Narzissmus erst an. Bis auf die Gipfel unserer Existenz, auch „Selbstverwirklichung" genannt. Punkt für Kanye West, wenn er rappt: „Name one genius that ain´t crazy?“. Kanye, Steve Jobs, Cristiano Ronaldo: kein Genie ohne Größenwahn, keine große Kunst ohne Ich Ich Ich! Aber auch: keine Liebe ohne Selbstliebe. Völlig unnarzisstisch sind nur Amöben. Was also ist eine gute Mischung? Was ist die richtige Dosis Ich?
Kurzer Ausflug in die Mythologie der Griechen, die – wie so oft – dem Begriff zugrunde liegt: Narziss himself war der schöne Sohn des Flussgottes Kephissos. Er war so schön, dass Jünglinge wie Jungfern sich in ihn verliebten. Doch ihn rührte niemand. Er liebte nur sich selbst. Und ein weiser Mann sagte ihm voraus: Du wirst nur lange leben, wenn du dich nicht selbst erkennst. Narziss aber ließ all seine Verehrer und Verehrerinnen herzlos abblitzen. Gestraft mit unstillbarer Selbstliebe, liebte er sich zu Tode. Manchen Quellen zufolge fiel er in einen See, als er sein eigenes Spiegelbild anschmachtete. Heute wäre Narziss vermutlich Modeblogger, dann Schmink-Youtuber – und verendete irgendwann im Dschungelcamp, dieser Lauch.
Damals aber war er ein Star. In der Antike trug man noch Schmuckstücke mit dem Bild des schönen Narziss', um das eigene Liebesbedürfnis zu zeigen. Erst die Christen zogen die Nächstenliebe der narzisstischen Selbstliebe vor. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts musste der Jüngling herhalten zur Stigmatisierung einer sexuellen Neigung, die damals als pervers galt: Selbstbefriedigung. Sigmund Freud unterschied dann endlich zwischen dem primären, gesunden Narzissmus des auf sich selbst bezogenen Säuglings. Und dem sekundären, ungesunden Narzissmus älterer Menschen, die damit ein verunsichertes Selbstwertgefühl ausgleichen wollen.
Weil du Schiss vorm Schmusen hast, bist du ein Narzisst
Dessen Quelle liegt Hans-Joachim Maaz, Psychiater und Autor von „Die narzisstische Gesellschaft“, zufolge allein im Umgang der Eltern mit dem Kind. Das Kleine ist viel schlauer, als Eltern denken, und spürt, ob es wirklich geliebt wird, ob man ehrlich mit ihm umgeht oder es manipuliert. Die „zumeist unbewussten Überzeugungen, Einstellungen und Motive des elterlichen Handelns“ entscheiden, ob ein Kind gesunden oder ungesunden Narzissmus ausprägt. Die „Selbstliebe, Zufriedenheit, Ehrlichkeit und Authentizität der elterlichen Psyche“ ist die Basis. Sein Selbst bildet und entfaltet sich „im Spiegel liebevoller Bestätigung und verstehbarer Begrenzung“. Die vorhandene Selbstliebe ermöglicht auch die Fremdliebe. Happy End.
Die narzisstische Persönlichkeitsstörung hingegen ist böse und erwischt vor allem Männer. Was auch daran liegt, dass der extrovertierte Narzissmus, der in der psychologischen Methodik als krankhaft definiert wird, eben vornehmlich bei Männern beobachtet wird. Der introvertierte, verletzliche Narzissmus, der eher bei Frauen auftritt, ist deutlich schlechter erforscht. In „Weiblicher Narzissmus. Der Hunger nach Anerkennung“ beschreibt die Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki diese Minderwertigkeitsgefühle, die Frauen eher als leichte Kränkbarkeit und Dünnhäutigkeit ausleben. Beiden Geschlechtern gilt: Der ungesunde Narzisst kann nicht lieben. Denn er liebt sich selbst nicht. Weil seine Eltern ihm diese Liebe nicht gegeben haben. Frei nach Die Ärzte: Weil du Schiss vorm Schmusen hast, bist du ein Narzisst.
Wonach er/sie stattdessen süchtig ist: Aufmerksamkeit. Sie funktioniert wie Methadon bei einem Heroin-Abhängigen. Er braucht extrem viel davon, um den Schmerz der fehlenden Liebe zu stillen. „Die Aufmerksamkeit anderer Menschen ist die unwiderstehlichste aller Drogen“, schrieb Georg Franck in „Die Ökonomie der Aufmerksamkeit“. Denn: "Ihr Bezug sticht jedes andere Einkommen aus. Darum steht der Ruhm über der Macht, darum verblasst der Reichtum neben der Prominenz.“ Das kennst Du, lieber Leser, vielleicht von deinem Zwang, noch mal auf Instagram zu checken, ob schon ein Like mehr eingetrudelt ist.
Dabei geht es dem Narzissten darum, den anderen dabei zu betrachten, wie er wiederum ihn betrachtet. Wie das Kind im Gesicht der Mutter einen ersten Spiegel erfährt, und diesen Widerhall als Liebe spürt, so sieht auch Narziss, damals am See, nicht nur sein Spiegelbild, sondern eben das, was andere von ihm sehen würden, nähmen sie ihn wahr. „Eigentlich erzählt der antike Mythos“, so Martin Altmeyer in seinem Buch „Auf der Suche nach Resonanz“, „in all seiner Tragik von der Reflexivität der narzisstischen Selbsterfahrung, von der ewigen Suche nach Widerhall, vom verzweifelten Bedürfnis nach Resonanz.“
Übersetzung: Unser Selbst, egal wie narzisstisch, schaut immer, ob und ja welche Rolle wir auf der Bühne eines anderen Bewusstseins spielen. Altmeyer nennt das die "narzisstische Urszene“. Sie durchzieht unser gesamtes Sozialleben. Bekommen wir zu wenig Resonanz, haben wir eine Urerfahrung der vorenthaltenen Spiegelung gemacht. Also suchen wir uns überall Spiegel – beispielsweise auf Instagram. Diese erkämpfte Liebe ist aber wie Falschgeld. Man kann sich von ihr keine echte Befriedigung kaufen. Und der Narzisst braucht immer mehr davon. Er kann nicht aufhören, durch allerlei Manipulation wie ein Vampir Aufmerksamkeit aus der Welt zu saugen. Und hat dabei selten ein moralisches Unrechtsbewusstsein. Denn, so glaubt er, es wurde ihm etwas vorenthalten, was er sich jetzt zurückholt.
Der Ausweg ist wie immer die Liebe
Seine chronische Rücksichtslosigkeit unterscheidet ihn vom gemeinen Arsch. Denn „jemand, der ab und zu ein Arsch ist, hat noch keine Persönlichkeitsstörung. Jemand der immer ein Arsch ist, obwohl du ihn bittest, keins zu sein, schon“, findet zumindest der Youtube-Selbsthilfe-Guru Richard Grannon in einer Vice-Doku über Narzissmus. Moment, fragst du dich: Lebt die Vice nicht davon, Narzissten jede erdenkliche Art von Narzissmus narzisstisch unter die Nase zu reiben? Und ist nicht ein Selbstverteidigungs-Coach wie Richard, der jetzt auf Youtube Küchenpsychologie verbreitet, auch ein Narzisst?
Ja, genau. Und auch nein. Ein gepflegter Narzissmus, auch das lustvolle Gruseln oder Aufregen über andere Narzissten, gehört heute dazu. Und ist nicht krankhaft. Ebenso die manisch-depressive Beschäftigung mit dem eigenen Selbst, das nach der Soziologin Eva Illouz in der von Klassen und Codes entfesselten Postmoderne sowieso Zentrum aller Liebesströme sein will. „Wir erleben sozial akzeptierten, ermutigten Narzissmus“, sagt ein Narzisst in der Vice-Doku. Den halten wir aus. Der ist, genau: „normal“. Ab und zu was Tolles posten, sich schick anziehen, sehen und gesehen werden – krankhaft narzisstisch ist nur, wer aus diesem Verhalten nicht ausbrechen kann. Wer immer nur nimmt, und nie gibt. Wer skrupellos und rücksichtslos ist. Wer nie Spiegel sein kann. Die richtige Mischung ist also: Geben und nehmen.
Das ist für uns Teilzeit-Narzissten der Ausweg aus allem Narzissmus: Schenken. Echte Liebe muss es geschenkt geben. Man kann sie sich nicht verdienen. Wenn ich sie schenke, bekomme ich sie. Unsere Beziehungen, die ganze Gesellschaft muss ein Spiegelkabinett sein. Dann vervielfacht sich die Liebe. Tröstlich, oder? Am Ende geht es wieder nur um Liebe. Die kann man auch üben. Fast alle von uns können lieben. Na los, worauf wartet ihr noch? Geht raus und liebt und teilt diesen Artikel mit allen. Ich brauche die Aufmerksamkeit dringend. Danke.