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Mies aufgelegt: Wolfgang Dirrigl
Mein schwärzester DJ-Abend liegt fünf Jahre zurück: Ich war für einen Soul Allnighter in der Stuttgarter Stereo Lounge gebucht. Hinter mir lagen drei Stunden Anfahrt aus München durch strömenden Regen und ich war hundemüde von etlichen Nachtschichten. Aber der im Retro-Design gehaltene Laden in der Innenstadt versprach eine stilvolle Party, euphorische Soul-Affiniciados, Tanz bis in die Morgenstunden.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Beim Aufwärm-Set begann ich schon einmal die Singles zu sortieren: Midtempo-Nummern und Beatballaden für den Anfang, rasante Sixties-Stomper für später. Auf dem Plattenteller drehte sich Jackie Wilsons „Whispers Gettin’ Louder“. Die ersten Paare wippten an der Bar. Da überfiel es mich schlagartig: Verdammt, wo steckte nur Gene Chandlers „Mr. Big Shot“? „You Had Me Fooled“ von Danny Woods? Oder Luther Ingrams “If It’s All The Same”? All die Northern-Soul-Klassiker, die ich für das Hauptset eingeplant hatte. Tatsächlich ging mir erst in diesem Moment auf, dass nur ein einziger Plattenkoffer neben mir stand. Dabei konnte ich Stein und Bein schwören, zwei eingepackt zu haben. Zumindest am heimischen Garagentor hatte ich sie noch in der Hand gehabt. Leichte Panik stieg in mir auf. Ausgerechnet die Raritäten-Box! Da waren keine Scheiben drin, die ich mir morgen im Second-Hand-Laden um die Ecke wiederbeschaffen konnte. Nein, dieser Koffer enthielt zwanzig Jahre Sammelwahn. Begehrte Original-Singles. Nach endloser Suche bei einem englischen Händler erstandene Geheimtipps. Klassiker in Erstpressung. Schließlich garantierten gerade Eintausend-Euro-Singles wie „Lover“ von den Delighters meinen Ruf als Northern Soul DJ. Schlagartig war ich hellwach: Ich rief die Stuttgarter Taxi-Zentrale an. Nein, kein Plattenkoffer abgegeben. Fuhr zu dem am Hotel abgestellten Auto. Der Kofferraum war tatsächlich leer. Rief eine Freundin in München an: Tut mir leid ... späte Stunde ... aber kannst Du mal bitte zu meiner Garage ... könnte ein Plattenkoffer davor...? Nein, nur schwach erleuchtete Regenpfützen. Ich hielt den gesammelten Mitleids-Bekundungen der Kollegen noch ein tapfer-verkrampftes „wird sich schon finden...“ entgegen und saß wieder im Auto. Vollgas. Kettenrauchend. Jeden Kilometer nach München zählend. Um vier Uhr nachts stand ich endlich vor dem Garagentor. Keine Single-Kiste davor. Keine Single-Kiste dahinter. Hatte ich etwas anderes als die schwach erleuchteten Regenpfützen erwartet? Bleischwer und besiegt wie ein Feldherr, der soeben nicht nur seine Armee sondern auch jeden Anspruch auf eine ehrende Fußnote in den Geschichtsbüchern verwirkt hatte, ließ ich mich auf das Bett fallen. Und wachte erst wieder auf, als mein Vater – er wohnt ein Stockwerk unter mir – morgens an die Tür klopfte. „Gestern stand eine deiner Kisten vor der Garage. Die hab ich mal in die Wohnung zu mir genommen.“ Eltern! Ewig kontrollierende, alles hinterherräumende Aufpasser – und die Retter meiner DJ-Karriere.