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Meinungsbildung durch soziale Medien
Als vor Kurzem Hunderttausende auf die Straße gingen, um gegen TTIP zu demonstrieren, fiel mir etwas auf: Ich bin gegen TTIP, aber ich kann nicht genau sagen, woher diese Haltung kommt. Das heißt: Ich weiß schon, dass sie wohl etwas mit Aussagen zu Schiedsgerichten und Umweltstandards zu tun hat, die ich irgendwo aufgeschnappt habe. Aber ich habe mich weder selbst ausführlich mit den Entwürfen zu TTIP beschäftigt, noch setzt sich meine Haltung aus Kommentaren einer Tageszeitung oder eines Onlineportals meines Vertrauens zusammen.
Ich habe also eine Meinung, aber frage mich: Woher kommt die? Im weitesten Sinne habe ich natürlich das Internet im Verdacht. Meine Facebook-Freunde teilen Artikel, deren Teaser Infos in Gefühle verwandeln. Nachrichtenportale senden mir Push-Nachrichten. Ich werde also überschüttet mit Meinungsschnipseln. Aber haben die wirklich so einen starken Einfluss auf mich?
Christoph Neuberger ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der LMU – und, wie es sich für einen Kommunikationswissenschaftler gehört, berichtet er vom Konzept der Schweigespirale: „Wir beobachten die Umwelt und orientieren uns an dem, was andere sagen – aus Isolationsfurcht, weil wir nicht alleine dastehen wollen mit unserer Meinung“, sagt Neuberger.
Und das verstärkt sich im Social Web natürlich: Meine überwiegend „Mitte-links“ ausgerichteten Freunde schreiben Kommentare und teilen Artikel. Jan und 50 weiteren Freunden gefällt das. Dann muss mir das doch auch gefallen. Ohne Facebook hätte ich meine Freunde einzeln nach ihrer Meinung fragen müssen. Ich hätte mich aktiv mit dem Thema beschäftigen müssen. Durch Facebook und Twitter nehme ich Meinungen meiner Freunde eher passiv auf, bin ständig mit ihnen konfrontiert und mache sie vielleicht zu meiner eigenen.
„Wir beobachten Meinungen in den sozialen Medien und wollen uns denen anschließen, zum Beispiel von Freunden und Bekannten“, sagt Neuberger.
So war das wohl auch bei der dritten Startbahn am Münchner Flughafen. Gegen die bin ich auch. Ohne fundiert sagen zu können, warum. Ich gehe also auf Spurensuche auf Facebook. Da gibt es eine Organisation, die „Keine dritte Startbahn“ heißt. Zwei meiner Facebook-Freunde gefällt das. Und tatsächlich: Im Feed von einem der beiden entdecke ich mehrere Posts gegen das Projekt aus dem Jahr 2012. „Weil Zelten viel schöner ist als Fliegen“, hat er geschrieben. Oder „Weil außer der Lufthansa wohl NIEMAND profitieren würde.“ Wer tatsächlich von einer dritten Startbahn profitieren würde, weiß ich nicht. Dass Zelten schöner ist als Fliegen, finde ich aber auch. Ich habe sogar bei dem Bürgerentscheid gegen die dritte Startbahn gestimmt.
Ich vertrete eine Meinung, die nicht zu 100 Prozent von mir stammt
„So etwas brauchen wir nicht“, sagte ich. Und demonstrierte damit nach außen eine Meinung, die nicht zu 100 Prozent von mir stammt. Es ist eine Haltung, zu der ich stehe. Aber ich weiß nicht, ob sie noch die gleiche wäre, wenn ich mich eingehend mit dem Thema beschäftigen würde. Wahrscheinlich schon – vielleicht aber auch nicht.
Und die Frage, die sich daran unbedingt anschließt, lautet natürlich: Wie war das in der Zeit vor dem Internet? Hat die Generation meiner Eltern sich fundiert mit Themen auseinandergesetzt, bevor sie auf Studentenpartys eine Meinung herausposaunt hat? Haben sich die Atomkraft-Gegner mit den Folgen und Alternativen auseinandergesetzt? Oder sind sie auf einen buttontragenden Zug aufgesprungen? Waren sie weniger fremdbestimmt in ihrer Meinungsbildung?
Neuberger schätzt, die Meinungsbildung heute sei nicht mehr oder weniger fremdbestimmt als damals. „Redaktionen hatten in der Vergangenheit mehr Meinungsmacht als heute“, sagt er. „Es gab eine überschaubare Zahl von Zeitungen und Fernsehsendern, die eine hohe Reichweite hatten und damit ein weitgehendes Monopol.“ Unsere Eltern haben sich ihre Meinung also nicht aus Posts von Jan Böhmermann und diversen Facebook-Freunden zusammengestöpselt. Sie haben Kommentare in den Zeitungen gelesen, abends die Tagesschau gesehen. Auch sie haben sich der Meinung anderer angeschlossen. Sie konnten aber leichter ausmachen, woher diese Meinung kam.
„Die Quellen, auf die wir uns beziehen, sind vielfältiger geworden“, sagt Neuberger. „Es gibt mehr Möglichkeiten, Meinungen zu erfassen.“ So viele Möglichkeiten, dass ich sie selten als einzelne wahrnehme. Was ich auf meinem Smartphone lese, auf dem Bildschirm in der U-Bahn, Videos, die ich über Youtube oder in einer Mediathek sehe: Alles fließt ein in den Strom an Eindrücken. Und daraus formt sich dann eine Meinung, die plötzlich da ist.
Am liebsten hätte ich aber nur Meinungen, die ich mir selbst gebildet habe – ganz bewusst und reflektiert. Laut Neuberger habe ich schon einen wichtigen Schritt in diese Richtung getan: Ich bin mir der Tatsache bewusst geworden, dass meine Meinungsbildung durch Algorithmen gelenkt ist und, dass ich nur mit bestimmten Freunden vernetzt bin, die eine ähnliche Meinung haben wie ich. Das hilft mir, von einer Meinung Abstand zu nehmen und zu versuchen, mir bewusst eine Haltung zu bilden.
„Dazu sollte man sich Medienmenüs zusammenstellen, sodass man einen Überblick über verschiedene Positionen bekommt“, rät Neuberger. Während das früher hieß, sowohl die FAZ als auch die taz zu abbonieren, kann ich im Internet zum Beispiel Google News nutzen und bekomme so einen guten Überblick über die Haltungen, die in den verschiedenen Medien vertreten werden.
Ich kann mich sicher nicht mit allen Themen so genau auseinandersetzen. Dazu fehlt mir die Zeit. Aber vielleicht sollte ich dann öfter mal keine Meinung haben. Einfach mal sagen: „Mit dem Thema habe ich mich noch nicht lang genug beschäftigt. Dazu habe ich im Moment keine Haltung.“