Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Würdest du für 50 Euro bitte weggehen?

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Ich hasse volle Aufzüge und der Hass wächst mit den Jahren. Mittlerweile warte ich fast immer auf den nächsten oder nehme die Treppe. Nicht wegen Klaustrophobie, sondern wegen der Menschen. Ebenso in der S-Bahn: Wenn ich nicht mit dem Rad zu Arbeit fahren kann, sondern mich in einen muffigen Vierer setzen muss, verdirbt mir das die Laune, und zwar heute mehr als vergangenes Jahr. Ich fürchte, es ist so: Mit ansteigendem Alter neige ich dazu, lieber allein zu sein als früher. Meine Ruhe zu haben. Nicht die „Ich stricke lieber allein daheim als mich mit Freunden zu treffen“-Ruhe, sondern die „Ohne fremde Menschen drumrum“-Ruhe.  

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Zum Beispiel im Zug. Ich fahre gerne Zug, ich mag die Sitze, den Blick aus dem Fenster und dass die meisten Menschen den Mund halten. Da ich oft woandershin muss, gebe ich monatlich fast genauso viel Geld fürs Zugfahren aus wie für meine Miete. Viele reagieren erstaunt bis verständnislos, wenn sie von meinen horrenden Fahrtkosten erfahren. „Aber warum fährst du denn nicht mit der Mitfahrgelegenheit?“, fragen sie dann. Oder: „Wieso nimmst du nicht den Fernbus?“ Ich sage dann, dass ich mit beidem weitaus länger brauche als mit der Bahn. Das verstehen die Menschen: Zeit ist Geld, für zwei gesparte Stunden kann man auch 50 Euro mehr ausgeben, finden sie. Was die meisten weniger verstehen, ist die ehrliche Antwort auf diese Frage: Ich gebe gerne mehr Geld aus, wenn ich dafür größere Chancen darauf habe, dass der Platz neben mir frei bleibt und ich mit niemandem reden muss. Es gibt Situationen, in denen kann man sich das Alleinsein erkaufen, und darum plane ich, seit ich eigenes Geld verdiene, einen immer größeren Teil meines Gehalts dafür ein.  

„Klar“, werden jetzt einige sagen, „du kannst dir mehr leisten, seit du einen Job hast. Es geht doch bloß um ein bisschen mehr Luxus.“ Ich glaube das auch. Aber der Luxus eines Hotelzimmers besteht für mich nicht darin, dass das Bett besser ist als im Hostel-Schlafsaal, sondern darin, dass ich alleine bin. Dass ich nachts niemanden atmen höre, außer vielleicht jemanden, den ich mir ausgesucht habe, und dass es auch nicht nach dem Talg anderer riecht. Ich schlafe immer noch gerne im Hostel – aber im Einzelzimmer. Mittlerweile fahre ich auch immer öfter Taxi als U-Bahn, vor allem nachts, wenn der Bahn-Trubel besonders anstrengend ist. Und ich wohne zwar immer noch in einer WG – sehne mich aber zunehmen nach einer eigenen Wohnung, in der ich niemandem begegnen muss, wenn ich gerade niemandem begegnen will.  

Manchmal frage ich mich, woran das liegt. Bin ich misanthropischer geworden? Arroganter? Schüchterner? Oder bin ich jetzt, mit Mitte 20, dünnhäutiger als mit 20? Und wenn ja, warum? Eine mögliche, aber ziemlich pessimistische Antwort wäre: Je älter ich werde, desto größer ist die Gruppe an Menschen von denen ich schon mal genervt war. Im Bus, im Hostel, in der Wohnung. Das hieße dann, dass ich mich wegen der vielen „schlechten Erfahrungen“ von anderen Menschen fernhalte. Aber da ich mindestens genauso viele gute Erfahrungen gemacht habe, kann das eigentlich nicht sein. Ich habe nur auf beide, die guten und die schlechten, weniger Lust. Eine andere Antwortmöglichkeit wäre, dass mein Leben voller geworden ist. Dass es mehr zu bedenken und zu verarbeiten gibt und jeden Tag so viel Input, dass ich mir ab und zu etwas Anti-Input erkaufen muss. Dass ich jetzt, wo ich erwachsen bin und mich ganz auf die Welt einlassen muss, inklusive all der negativen Bestandteile wie Steuererklärung und Zukunftssorgen, auch mehr Sensoren brauche, um alles aufzunehmen, so aber auch schneller an Reizüberflutung leide. Und dann manchmal einfach keinen Bock mehr habe auf Leute, die unnötig an meinen Sensoren andocken. Darum fülle ich, sinngemäß, dauernd Überweisungsträger aus, auf denen ich Dinge wie „Einmal ohne fremden Atem bitte“ in die Betreffzeile schreibe.  

Wahrscheinlich ist es eine Frage der Prioritäten. Erwachsenwerden bedeutet im besten Falle, eigenes Geld zu verdienen, das man komplett selbstbestimmt ausgeben kann – nicht nur für Essen und Kleidung und einen Esstisch, sondern auch für immaterielle Dinge wie Zeit, Gesundheit oder eben Ruhe. Und ich investiere nun mal am liebsten in Ruhe. Ich fürchte aber auch, dass das ein Luxus ist, auf den ich als erstes wieder verzichten muss, wenn mal finanziell knappere Zeiten anstehen. Gut, dass ich mir vor einiger Zeit wenigstens schon mal teurere Kopfhörer geleistet habe. Mit denen hat man auch im Auto der Mitfahrgelegenheit seine Ruhe.

Text: valerie-dewitt - Bild: rowan / photocase.de

  • teilen
  • schließen