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Wir Moment-Festhalter oder: Warum uns eine Fotopause nicht schaden würde
Es ist eine simple, sehr populäre Geste: den rechten Arm über Kopfhöhe gehoben, das Foto-Handy zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt und den Blick aufs Display geheftet. Menschen, die so den Auslöser ihrer Kamera betätigen, trifft man auf einem gewöhnlichen Pop-Konzert in einer westlichen Großstadt mittlerweile häufiger als Träger von Fan-Shirts. Der Wunsch, den Konzertbeginn, einen besonderen Moment, vielleicht den Beginn eines Lieblingsliedes im Bild festzuhalten, ist bezeichnender für eine ganze Generation als jede Zuschreibung zuvor - weder "Golf", noch "Umhängetasche" noch "Doof" waren als Metapher jemals derart verbreitet wie die typische Handbewegung der Foto-"Festhalter". Der Festhalter. Auf Konzerten trifft man ihn besonders häufig an, er ist aber immer dabei, wo wir uns bewegen: beim abendlichen Grillfest im Park, auf der Rückbank im Auto und wenn wir euphorisiert durch fremde Städte laufen. Der Festhalter ist ein digitaler Moment-Sammler. Selber oft unsicher, was er eigentlich will, will er sein Leben auf der Speicherkarte der Handy-Kamera sichern. Die Kamera in der Hand wird so zum Instrument gegen eine kollektive Vergessensangst. Papstwählende Kardinäle knipsen genauso gegen den Fortgang der Zeit an wie Bayern-Spieler, die auf dem Münchner Rathausbalkon die Meisterschaft feiern. Die Festhalter wollen sich die Möglichkeit schaffen, jederzeit nochmal auf diesen einen Moment zurückgreifen zu können.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Der Mann neben Oliver Kahn ist gerade Deutscher Fußballmeister und Pokalsieger geworden. Während die anderen feiern, macht Christian Lell Fotos vom Feiern, um den Moment ja nicht zu verpassen.
Das funktioniert sehr gut, wenn man die Gedankenwelt des Fotografierenden als Maßstab wählt. Es funktioniert jedoch gar nicht, wenn man die Fotos betrachtet, die so entstehen. Wir sind – man muss es so ehrlich sagen – die Generation, die mit Abstand die schlechtesten Bilder seit der Erfindung des Fotoapparats knipst. Und das, obwohl keine Generation vor uns auf dieses Heer an Pixeln zurückgreifen konnte. Technische Ausstattung und fotografische Qualität waren vermutlich nie so weit voneinander entfernt wie heute.
Das ist ästhetisch schade, aber vor allem methodisch ein Problem: Vor lauter Euphorie töten wir mit dem Apparat in der Hand nicht nur die Schönheit des Augenblicks, wir vertrauen fälschlicherweise auch voll und ganz auf die Technik. Doch die läßt uns verlässlich im Stich. Man erkennt später einfach nicht mehr genau, welche Festival-Band man da eigentlich fotografiert hat. Einzig an der Uhrzeit der Aufnahme lässt sich ermitteln: Das waren Fettes Brot und nicht die Wombats.
Die jetzt.de-Redaktion hat zusammengelegt und für dich Bilder von 20 je persönlichen Erinnerungssituationen gesammelt. Natürlich in top-schlechter Qualität, so dass sie auch wirklich für jeden als universelle Erinnerungshilfe dienen können. Die Bildergalerie dieser vermeintlich individuellen Erinnerungen ist darüberhinaus aber auch Anlaß für eine Forderung, die man auf Konzerten gerne dem fotografierenden Vordermann ins Ohr brüllen würde:
„Nimm mal den Arm runter. Du erkennst doch später eh nichts. Und vor allem: Ich sehe jetzt nichts.“
Jetzt brüllen wir sie uns selber zu und verzichten einen Tag lang aufs Erinnerungsfotografieren. Wir merken uns einfach, was uns wichtig erscheint.
Probier's mal aus. Diese Enthaltsamkeit ist so großartig - man möchte sie fast fotografieren.
Bildergalerie kann leider nicht angezeigt werden.
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Schick uns deine schlechtesten Erinnerungs-Bilder. Wenn viele schrecklich-schöne zusammenkommen, drucken wir die besten auf der jetzt.de-Zeitungsseite in der Süddeutschen Zeitung. Einfach per Mail (Stichwort: Erinnerung) an dvg@jetzt.de
Wenn jeder Knipsen kann - brauchen wir dann noch den Beruf des Fotografen? Lies hier unser Interview mit einem Fotodesign-Dozenten.
Text: dirk-vongehlen - Foto: dpa