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Warum wir nach dem Abi alle helfen wollen
Immer mehr Schüler zieht es nach dem Abschluss ins Ausland. Wir wollen in der Ferne uns selbst finden, wir wollen vielleicht Weltverbesserer werden, wir wollen vor allem raus aus Europa. Doch sind das schon alle Gründe dafür, warum wir so scharf darauf sind, wegzukommen? Wieso haben wir keine Angst, mutterseelenallein in ein fremdes Land zu reisen, um dort fremden Menschen mit fremden Problemen zu helfen? Ich versuche mal, die Frage aus meiner Sicht zu beantworten. Ich muss noch ein Jahr in die Schule gehen und plane dann ein Jahr im Ausland. Das habe ich in meinem utopischen Lebenslauf immer so vorgehabt. Ich wusste immer: Danach hau ich erstmal ab! Es gibt viele Gründe dafür. Zwölf Jahre einigermaßen tristes Schulleben, der immergleiche Tagesrhythmus, bestehend aus früh aufstehen, zur Schule gehen, Hausaufgaben machen, ein bisschen Sport treiben und wieder schlafen gehen, gelegentlich unterbrochen durch spaßorientierte Freizeitaktivitäten wie den feuchtfröhlichen Freitagabend und den verkaterten DVD-Samstag - da überkommt einen leicht der Drang, einen höheren Sinn in seinem Dasein und in seinem Handeln zu suchen. Und ich bin ja nicht alleine mit dieser Idee, erstmal weggehen zu wollen. Der Großteil meines Abiturjahrgangs möchte vor dem Studium etwas von der Welt sehen. Ob als Au pair, bei einer Sprachreise, bei Work & Travel oder in einem FSJ, alle wollen über den Tellerrand und die Grenzen des eigenen Lebens und des eigenen Landes hinausschauen. Vor allem Freiwilligendienste sind beliebt. Vermutlich wegen eben dieser Suche nach einem neuen Lebensinhalt. Eine Freundin will nach Südamerika, um dort in einem Kinderheim zu arbeiten. Eine andere fände es toll, in Indien beim Bau einer Schule mitzuwirken. Viele wollen Hand anlegen, vielleicht, weil praktische Tätigkeiten die ersehnte Abwechslung vom Lernen sind. Zudem ist soziales Engagement nicht unbedeutend bei einer Bewerbung. Aber halt! Es geht keineswegs nur um eine Aufpolierung des Lebenslaufs. Für mich geht es um Erfahrungen und Erlebnisse außerhalb von dem, was ich kenne und von dem, was ich gewöhnt bin. Ich stelle mir vor, dass ich in einem Hilfsprojekt das erste Mal richtig mitarbeiten kann; dass ich mithelfen kann, etwas zu erstellen und auf die Beine zu bringen.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Die Lebenssituation verbessern: Ein Kind in einer Armenschule in Indien.
Nebenbei ist ein Jahr im Ausland natürlich die souveränste Antwort auf die ewig nervige Frage „Und? Weißt du schon, was du nach dem Abitur machen willst?“. Gut, ganz so mutig wie Matthias Schweighöfer im Kinofilm „Friendship“ sind wir dann doch nicht. Einfach einen Rucksack überwerfen und gerade mit soviel Geld an den Flughafen kommen, dass es für die Anreise ins Abenteuerland reicht, das ist vielen von uns zu riskant. Wir suchen uns lieber Projekte, Jobs oder Praktika und bezahlen, wenn es sein muss, auch für die Vermittlung dieser Gewissheit. Vor Ort bekommt man dann in vielen Fällen ein kleines Taschengeld oder zumindest Unterkunft und Verpflegung.
Mit geht es also darum, die Welt ein bisschen besser zu machen. Aus eigener Kraft. Nun habe ich schon gehört, dass Kritiker dabei von "Katastrophentouristen" sprechen. Aber ich bin kein Katastrophentourist. Ich will mir Krisengebiete nicht nur aus Interesse oder persönlichem Vergnügen ansehen, ich will den Menschen dort helfen und ihre Lebenssituation verbessern. Punkt. Außerdem geht es mir darum, zu sehen, dass die Welt nicht nur aus Wohlstand und Idylle besteht, sondern dass sie auch Schattenseiten hat. Ich glaube, dass ich das wissen muss, wenn ich ein erwachsener Mensch werden will. Horizonterweiterung, quasi.
Ich freue mich darauf, nach zwölf Jahren Schule einmal etwas zu tun, was ich selbst für wirklich sinnvoll erachte. Das bedeutet, nicht mehr jeden Tag als Egotaktiker zu verbringen und sich nicht um den eigenen Erfolg, den eigenen sozialen Aufstieg zu bemühen. Natürlich bekomme ich auch hier viel mit vom Leiden auf der Welt. Doch die Armut im Fernsehen berührt einen nie, weil man nie von ihr betroffen ist. Vielleicht habe ich auch ein schlechtes Gewissen, so wohl behütet wie ich aufgewachsen bin. Abgesehen von Problemen in der Schule, mit den Freunden, mit der Familie oder mit der Jugendliebe geht es uns ja vergleichsweise immer gut. Vielleicht reicht es uns nicht mehr, jedes Mal nur auf die Welt zu sehen und zu sagen „Ja, das ist wirklich furchtbar“. Von älteren Rückkehrern hört man, die Erlebnisse hätten sie auch charakterlich verändert. Die Erfahrung eines anderen Lebens, das nur sehr wenige Möglichkeiten bietet, mache bescheidener. Erst dann würde man den Überdruss zu Hause erkennen und das Glück, hier in Deutschland geboren zu sein nicht mehr als Selbstverständlichkeit ansehen. Allein diese Erkenntnis ist ein solcher Aufenthalt wert, finde ich.
Sophie Mathiesen, 17, ist gerade Schülerpraktikantin in der jetzt.de-Redaktion.
Text: sophie-mathiesen - Foto: dpa