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Schön, schön, schön sind alle meine Makel
[i]"You are beautiful no matter what they say…”[/i] Zugegeben: Es ist nicht besonders sexy, einen Artikel mit einem Zitat von Christina Aguilera zu beginnen. Nur drückt sich in dieser banalen Liedzeile auf ganz wunderbar absurde Weise ein Prinzip aus, das seit einiger Zeit als modernes Märchen die Welt erobert: Der Aufstieg des hässlichen Stars. Oder um es nicht ganz so hart zu sagen: Das hinter einer Fassade aus ungezupften Augenbrauen, Speckröllchen und tollpatschigen Bewegungen versteckte Supertalent, das so gar nicht in die Scheinwelt der Stars und Sternchen passen mag, in der es sich plötzlich wie selbstverständlich bewegt – und dafür frenetisch gefeiert wird. So wie Paul Potts, Holger Göpfert und nun das aktuelle britische Casting-Wunder Susan Boyle.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
In Christina Aguilera war es ausgerechnet eine blonde, schlanke, leicht bekleidete und als Sexsymbol gefeierte Popsängerin, die den Hässlichen, den vom Schicksal Gebeutelten – oder auch einfach: den Otto-Normalos – vor einigen Jahren tröstend zusäuselte, dass sie schön seien, so wie sie sind. So wie es eine erfolgreiche Poprockgöre wie Pink war, die uns glauben machen wollte, dass sie sich selbst hasst, wenn sie in den Spiegel schaut, weil sie nicht so hübsch sei wie Britney Spears (Anm. das war natürlich noch vor deren unten-ohne-Glatzen-Psychosen-Abstürze). Wenn offenbar perfekte Stars uns versichern, nicht perfekt zu sein oder gar behaupten, das Nichtperfekte sei schön, dann bestätigen sie entgegen dem Gesagten doch nur, was jeder bereits weiß: Du musst hübsch und sexy sein, um berühmt zu werden. Talent kann, aber muss nicht.
[b]Das aguilerische Paradoxon[/b]
Wir haben das aguilerische Paradoxon natürlich von Anfang an durchschaut. Klar finden wir uns schön und sind super-selbstbewusst und überhaupt kommt es ja auf die inneren Werte an und so – berühmt werden wir damit in der Regel dennoch nicht.
Doch als habe die scheinheilige Versicherung von Schönheits-Relativität doch einen wahren Kern, haben es einige Wenige von uns sechs Milliarden Durchschnittsmenschen nun tatsächlich geschafft: Sie stehen im Rampenlicht, sie werden gefeiert und das sogar länger als 15 warholsche Minuten lang.
Der britische Handy-Verkäufer Paul Potts rührte 2007 in der Castingshow „Britain’s got Talent“ Jury und Zuschauer zu Tränen, als er aus seinem dicklichen Gesicht mit schiefen Zähnen inbrünstig eine Puccini-Arie schmetterte. So richtig toll war das eigentlich nicht, wie die ernsthaften Feuilletonisten sogleich bemäkelten. Aber darum ging es ja auch gar nicht. Es ging viel mehr darum, dass Potts unsere Erwartungen übertraf. Und das konnte er nur, weil er, nun ja, einer ist, den wir eigentlich gerne noch eine Stufe unter unserer eigenen Großartigkeit einordnen würden und auf den wir vor den Fernseh-Bildschirmen dieser Welt sitzend mit dem Finger zeigen und hämisch tuscheln können: „Guck mal, was der für schiefe Zähne hat.“
Und jetzt schau mal einer an: Da hat der Dicke doch wirklich so etwas wie eine Stimme im Leib, wahrlich, der muss ja ein Supertalent sein!!, und schwupps, saust er mit schwülstigen Arien an die Spitze der Charts und vom Handy-Shop in den globalen Talente-Tourbus.
[b]Deutschland sucht den Quoten-Normalo[/b]
Klar, dass auch alle anderen nun ihren Quoten-Normalo mit Makel brauchen. Einen, der eigentlich gar nicht reinpasst und gerade deshalb geliebt wird, der als Holger Göpfert lustig vor Bohlen & Co rumturnt wie ein irrer Brummkreisel und wenn er nicht zu Beatles-Hits röhrend in die Tasten haut, kaum ein gerades Wort aus dem Mund bekommt. Ohne Frage auch, dass der arme Holger noch nie eine Freundin hatte und dass die Kuppler der Nation von der Bildzeitung das gar nicht verstehen können. Es muss daran liegen, dass er so schüchtern ist. Nee, is klar. Zwar schied der deutsche Beinahe-Superstar vorzeitig aus der Show aus. Aber wenigstens wurden wir unterwegs gut unterhalten, mit Blick auf Holgers und unserer aller eigener Unzulänglichkeiten, die wir in ihm gespiegelt fanden und dabei gleichzeitig so schön übertünchen konnten.
Das wirklich Erstaunliche aber ist, dass es nach den Männern, die ohnehin schon immer großzügigeren Schönheitsidealen unterlagen, nun eine Frau geschafft hat: Der Auftritt der Britin Susan Boyle bei „Britain’s got Talent“ drückte vergangenes Wochenende auf die kollektive Tränendrüse und bescherte ihr bis heute sagenhafte 25 Millionen YouTube-Klicks und mehr. Eine grau gelockte Britin jenseits der Menopause, mit Doppelkinn und buschigem Achselhaar, deren Augenbrauen es locker mit Theo Waigel aufnehmen können und deren Hüftschwung unter einer als goldigem Kleid getarnten Wurstpelle uns die Kinnlade runterklappen lässt. Die perfekte Angriffsfläche, um die eigenen Minderwertigkeitskomplexe in geballter Menge abzuschießen und sich genüsslich an dem zu laben, was in unseren Breitengraden gemeinhin als „hässlich“ eingestuft wird.
Doch dann wieder der Paul Potts-Effekt: Diese Stimme! Ach! Und wie dramatisch es doch ist, dass diese ungeküsste 47-Jährige mit dem Musical-Stück „I dreamed a Dream“ (Les Miserables) von gescheiterten Träumen singt, die – wir ahnen es alle – ihre eigene Biografie bis dato geprägt haben. Keiner will es sagen, aber alle denken doch insgeheim: Wie kann etwas so Schönes aus etwas so Hässlichem kommen? Das muss doch Schicksal, göttliche Vorhersehung, ein Märchen sein. Oprah Winfrey rief sogleich an und die hübsche Demi Moore zwitscherte ihrem hübschen Twitter-Gatten Ashton Kutcher zu, dass sie Tränen verdrückt habe, als sie Boyle singen hörte – und sah.
Britains Got Talent- Susan Boyle - MyVideo
[b]Keine Schönheit im Auge des Betrachters[/b]
Es ist müßig an dieser Stelle über die Relativität von Schönheitsidealen zu diskutieren. Darüber, dass in manchen Epochen oder Kulturen Dicksein Prunk ist oder dass Schönheit im Auge des Betrachters liegt. Denn wenn eines beim ersten Blick auf Paul Potts, Holger Göpfert oder Susan Boyle gewiss nicht im Auge der Betrachter lag, dann war es das, was gemeinhin unter Schönheit verstanden wird.
Dass Demi Moore Rührungstränen weint, dass Christina Aguilera möglicherweise auch Susan Boyle zusingen würde „du bist wunderschön!“, hat nichts mit dem Ende eines herrschenden Schönheitsideals zu tun, sondern bestätigt dieses im Kern. Die schöne Scheinwelt des Pops braucht die Imperfektion des Normalbürgers, um sich strahlend abzuheben und sich als Sinnbild von Schönheit manifestieren zu können.
Text: marie-piltz - Foto:AP