Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Nicht blinzeln!

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Victoria“ ist ein Film, bei dem der Schwindel länger bleibt als der Abspann und nach dem die Lungenflügel erst langsam wieder anfangen zu arbeiten. Und am nächsten Tag fühlt es sich noch an, als hätte man einen Kater. Für 140 Minuten ist es als seien alle körperliche Funktionen ausgesetzt. So lange geht der Film. Und solange gibt es keinen Schnitt, wie man überall lesen und hören kann. Das nennt man einen One-Take. „Victoria“ ist ein Film von Sebastian Schipper , in dem ein paar Freunde zusammen einen Banküberfall begehen. Darüber wird momentan viel gesprochen und gejubelt – auch wegen seiner Machart. Auf dem deutschen Filmpreis gingen sechs Lolas an die Filmcrew.

Extrem erfolgreiche One-Take-Wonder mit Grammy und Oscar-Auszeichnungen gab es  neben Victoria noch einige andere im letzten Jahr: Da war das preisgekrönte Video der australischen Sängerin Sia zu ihrem Song Chandelier, in dem die junge Tänzerin Maddie Ziegler wild durch eine verlassene Wohnung tanzt. Oder das Musikvideo von endlos lange Szene in True Detective, die jeder Fan dieser Liste hinzufügen würde. Der erste One-Take Langspielfilm ist Victoria auch nicht. 2002 hat Alexander Sokurow für seinen Film „Russian Ark“ schon mal 90 Minuten lang auf einen Schnitt verzichtet. Und es geht noch weiter. In Birdman gibt es zwar Schnitte, aber die sind so geschickt kaschiert, dass der Film beinah wie ein One-Take wirkt. Die Cutter habe lange daran getüftelt.

Also: One-Take bedeutet schon mal nicht weniger Mühe für die Produktion. Faulheit kann also nicht der Antrieb sein. Woher kommt dann diese Begeisterung? Und was zieht uns Zuschauer wie ein Sog in diese Kunstwerke ohne Schnitt und lässt uns hinten verblüfft und schwindelig wieder rausstolpern? Warum gerade jetzt diese Reihe von Werken, die das Blinzeln unmöglich machen?

Für den Victoria-Regisseur Sebastian Schipper ist es so etwas wie ein Schnappschuss, den die Zuschauer suchen. Etwas, das von einem gemeinsamen Erlebnis übrig bleibt. Etwas, das eigentlich gar nicht so gewollt war. In einemInterview mit der SZ sagte er: „Ich habe ja Lust auf Fehler. Das löst in mir schon länger etwas Konstruktives aus, und das hat in der digitalen Welt sogar noch zugenommen. Deren Perfektion erleidet glücklicherweise langsam einen Ermüdungsbruch.“ Heißt: Nichts ist langweiliger als sterile, perfekt zurechtgeschnittene Filme, bei denen ziemlich schnell klar ist, dass der Hauptteil vor einer grünen Wand in irgendeinem Studio produziert wurde. Kehren wir also nach 3D und Highdefinition zurück zur Antiperfektion?  Wollen wir lieber den Zufall als hermetisch abgestimmte Superproduktionen? Ein Gegentrend zu Jurassic Park und Co? Der Filmwissenschaftler Thomas Morsch bestätigt das. Aber dahinter steckt noch mehr. Für Schipper ist es der Schnappschuss, für Morsch das Handyvideo, das unsere filmischen Vorlieben prägt: „Ich glaube, die langen, ununterbrochenen Einstellungen korrespondieren mit unseren gegenwärtigen Seherfahrungen. Wir kennen das von Handyaufnahmen aus dem Urlaub oder von besonderen Erlebnissen. Diese werden im Nachhinein auch nicht mehr geschnitten und bearbeitet.“ Bei Victoria klappt das allerbestens. Durch die Nähe der etwas wackligen Kamera zu den Schauspielern, die alle Bewegungen mitmacht und sogar im engen Aufzug mitfährt werden die Protagonisten Sonne, Boxer, Blinker, Fuß und eben Victoria zu so etwas wie Kumpels. Fast will man sich schon selbst so einen ganggerechten Namen ausdenken, mit dem man in den Straßen und auf den Dächern von Berlin unterwegs sein und zu einem Komplizen werden kann.

Aber wieso haben auch Videos wie das von Sia solchen Erfolg, wo ja alles ziemlich perfekt arrangiert ist? Anders als bei Filmen wie Victoria ist die Kamera hier viel distanzierter.  Die Nähe zu den Protagonisten kann es also nicht sein, die uns daran dann faszinieren. Thomas Morsch erklärt sich das mit dem anderen filmischen Element, was wir aus unserem Alltag kennen: Bilder von Überwachungskameras. Die Aufnahmen seien auch nicht geschnitten oder in der Postproduktion bearbeitet. Sagen wir es, wie es ist: es geht eigentlich um Voyeurismus. Denn wer würde nicht mal gerne heimlich zusehen, wie jemand hemmungslos durch seine eigene Wohnung tanzt? Durch solche Videos werden wir in diesem Fall also nicht zu den teilnehmenden sondern zu den versteckten Beobachtern.

 

Und zu guter Letzt: Vielleicht liegt es auch ein bisschen an der Bewunderung, die wir für die Schauspieler aus „Victoria“, für Maddie Ziegler oder für Choreographien wie bei OK Go empfinden. Schließlich ist uns in jeder Sekunde klar, dass das, was da gerade passiert, nicht so gestellt ist, wie normalerweise. Da ist keine grüne Wand auf die im Nachhinein etwas projiziert wird und es gibt keine Gelegenheit, in schwierige Szenen noch einen Stuntmen einzuschleusen. Und wenn wirklich etwas schief läuft, muss gleich von vorne angefangen werden. Da muss man einfach mitleiden, hoffen, dass doch noch alles gut geht, den Atem anhalten und denken: „Bloß nicht blinzeln!“ 

  • teilen
  • schließen