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Meine Theorie: Wilde Typen heißen heute Lindsay und Amy
Man führe sich nur einmal die vergangene Woche im Leben des 20jährigen Schauspieltalents Lindsay Lohan zu Gemüte: Sonntagabend flog sie von Los Angeles nach New York. Dort wurde sie auf zwei Partys gesichtet, Wodka direkt aus der Flasche gluckernd. Um drei Uhr nachts saß sie wieder im Flieger zurück nach Hause. Die Nächte von Dienstag bis Donnerstag schlug sie sich in verschiedenen Clubs um die Ohren. Das Wochenende ging so weiter – und endete Samstagnacht mit einem Autounfall. Lindsay saß am Steuer, sie war betrunken, sie hatte Kokain im Gepäck. Deswegen wurde sie verhaftet. Nur 48 Stunden später torkelte sie sturzbetrunken aus irgendeinem anderen Club – und direkt in Richtung Entzugsklinik. Zum zweiten Mal in diesem Jahr. Man kann das alles abstoßend finden. Man kann aufschreien, dass sich ein junges Ding so kaputt macht oder auch Mitleid empfinden. Ich möchte mich aber lieber bei Lindsay Lohan bedanken. Denn dieses Mädchen rettet den Rock’n Roll als Lebensform.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Was, ich? Jo, mei! Bild: AP Für Sex, Drogen und Exzesse in der Popkultur waren bisher eigentlich immer Männer zuständig. Harte Kerle wie Jack Nicholson, Warren Beatty, Keith Richards oder Anthony Kiedis von den Red Hot Chili Peppers definierten das, was wir uns unter dem wilden Leben vorstellen. Sie hatten Talent, Kohle und wahnsinnig resistente Lebern. Sie schufen ihre eigenen Partymythen, nahmen sich die tollsten Frauen und machten nebenbei wichtige Filme oder brillante Lieder. Mädchen spielten da eine Nebenrolle. Klar, sie waren notwendig: Der halbe Glamour eines Hollywoodhelden speiste sich aus den heißen Schnitten. Doch letztendlich dienten sie als reines Beistellwerk. Sie wurden eben bei Bedarf genommen und konnten genau so wieder abgestellt werden. Die Ikonen haben Falten bekommen, sie sind häuslich geworden oder auch peinlich. Mit ihnen verlor auch der Exzess an sich seine Präsenz. Leistungsgesellschaft und Gesundheitsfixierung taten ihr übriges dazu: In letzter Zeit sollte man eigentlich erwachsen werden, immer nach Nivea riechen und lieber jeden Abend Sport treiben statt sich eine Flasche Rotwein in den Kopf zu stellen. Einerseits ist das ja auch alles richtig. Andererseits reicht es aber nicht. Zu einem vollständigen Leben gehört es auch, hin und wieder vollkommen los zu lassen. Natürlich will man seine Existenz nicht zu einer einzigen Alkoholpfütze machen. Doch genauso wie die grundsätzliche Rationalität brauchen wir eben auch hin und wieder die vollkommene Hingabe an sinnliche Freuden und das kurzfristige Außerachtlassen der Vernunft. Und dann tauchten im letzten Jahr plötzlich diese Mädchen auf. Fast wie in einer konzertierten Aktion besetzten sie mühelos die Lücken, die alten Rockmänner frei gelassen hatten: Erst Lindsay Lohan, die sich in kürzester Zeit von einem Disney-Süßchen in ein männerverschlingendes Party-Monster verwandelte und von einem Skandal zum nächsten schlingerte. Dann stellte sich Lilly Allen vor. Eine 20-Jährige mit einer riesigen Klappe und einer noch größeren Verachtung für gängige Schönheitsideale. In ihrem Chauvinismus hält sie problemlos mit dem Über-Proll The Streets mit und schafft es trotzdem, dabei nicht stillos zu werden. Lilly Allen hat eine Vergangenheit als Schulabbrecherin und Marihuana-Dealerin hinter sich und lässt sich am liebsten ohne BH und mit Bierflasche in der Hand ablichten. Oder Amy Winehouse, die mit riesigen Zahnlücken unverhohlen ihre Vorliebe zu hartem Alkohol kultiviert und ansonsten gerne über besoffenen Sex auf dem Teppich singt und darüber, wie es ist, einen vergebenen Mann einfach verführen zu müssen, obwohl man gar nicht viel für ihn empfindet. Alle drei sind Vertreterinnen einer Generation Mädchen, die sich endgültig von den klischeehaften Geschlechterrollen der Unterhaltungsindustrie befreit haben. Sie legen keinen Wert auf ihre Vorbildfunktion. Sie wollen nicht gefallen. Stattdessen haben sie den stilvollen Exzess zu einer Lebensform erhoben: Sie rauchen und saufen unverhohlen und scheren sich kein Stück um ihre Gesundheit oder gar ihren guten Ruf. Sie führen sich auf wie unzurechnungsfähige Halbstarke. Sie sind es, die sich jetzt die Typen nehmen. Einen nett aussehenden Partyjungen nach dem anderen verschleißen die Grazien – mit einer Selbstverständlichkeit, wie sie bisher eben nur von Männern praktiziert wurde. Ich will nicht darüber spekulieren, wie es ihnen selbst dabei geht. Aber ich glaube, es kann nicht schaden, dass sich die gepflegte Verachtung von Konventionen wieder einen Platz in der Öffentlichkeit erobert hat. Und zwar durch eine Gruppe hübscher Mädchen, die nebenbei gerade durch ihre Eigenwilligkeit zu Impulsgebern der Popkultur geworden sind - Amy Winehouse etwa hat praktisch im Alleingang die Soulmusik revolutioniert. Ja, es gibt immer noch mehr Jungs, die auf dem Gebiet erfolgreich sind. Doch keiner von denen ist halb so spektakulär und wild unterwegs wie die Amys und Lindsays. Ihnen haben wir zu verdanken, dass wir bei Exzess wieder an Spaß, Glamour und Jugend denken, statt an große Poren und schlechten Atem. Und deswegen sind diese jungen Mädchen mit den niedlichen Namen die echten Kerle von heute.