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Kamelle statt Helle
Eine kleine, auf den ersten Blick unspektakuläre Begebenheit vom ersten Wiesnwochende: Samstagspätvormittag, eine Runde Zugeroaster, wie sie hier in München sagen, sitzt an einem Tisch in der Spatenbräu-Festhalle, freut sich an der urig bayerischen Gemütlichkeit. Man trinkt die erste Maß. Plötzlich erklingen die ersten Takte von Viva Colonia. Und dann geschieht es: Die Dirndl-Mädchen und die Jungs in Krachlederner steigen auf die Holzbänke und singen. Voller Inbrunst. Sie seien mit ner Pappnas jebore und tränken jän en Kölsch. Es gibt mindestens drei Interpretationen dieser Situation: 1. Die Verfasserin dieses Pamphlets hat sich die Geschichte ausgedacht, um ihre Argumentation daran aufzubauen. 2. Das ist der eindeutige Beweis, dass Oktoberfest und Karneval im Kern völlig austauschbar sind. Es geht doch nur um den gesellschaftlich legitimierten Exzess zu Musik der Marke Partykracher. 3. Das ist der noch viel eindeutigere Beweis, dass die Bajuwaren und ihre Gäste aus aller Welt gerade eine tiefe Sehnsucht nach einer Polonaise verspüren. Nach Kamelle und Bützjen. Nach Karneval.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Das Oktoberfest ist mit Millionen Besuchern, tausenden geklauten Bierkrügen und traditionell mindestens einem verlorenen Gebiss jährlich zwar unbestritten das größte Volksfest hierzulande. Aber im Wettstreit mit dem anderen großen Volksfest, dem Karneval, kann die Wiesn nicht mithalten. Den historisch-sprachwissenschaftlichen Exkurs zum Begriff „Volk“ und ob man das denn so sagen darf, das alles möchte ich an dieser Stelle auslassen. Mir geht es hier nicht um Nationaldefinitionen, sondern ganz profan um Menschen, die feiern. Und wenn das Volk nun feste feiert, dann ist das in aller Regel ein Bierfest, was man gut oder schlecht finden kann, vor allem aber zeigt: In einem Punkt ist das Duell Wiesn versus Karneval zugegeben Geschmackssache. Kölsch oder Helles - über eine solche Frage lässt sich nicht vernünftig streiten. Wohl aber darüber, wie auf einem solchen Fest gefeiert wird. Auf der Theresienwiese sieht das jedes Jahr in etwa so aus: Man lustwandelt erst ein wenig an den Fahrgeschäften und Buden vorbei. Kauft vielleicht ein Lebkuchenherz für den Schatz. Nach diesem Vorgeplänkel lässt man sich dann aber ganz bald an einem Tisch in einem der Festzelte nieder. Allerdings nur, wenn man die Sitzplätze gegen einen ordentlichen Batzen Mindestverzehr ein Jahr im voraus reserviert hat. Oder prominent genug ist, dass man auch ohne Reservierung einen Tisch bekommt. Der dann auf wunderbare Weise von niederem Gesindel geräumt wird. Und wenn man zur Münchner Schickeria oder sonstiger A-bis-Z-Prominenz gehört, dann wird man auch in bereits geschlossene, weil überfüllte Zelte eingelassen. Gegen systematisch schlechtere Chancen im Bildungssystem oder auf dem Arbeitsmarkt, ist die Zweiklassengesellschaft auf der Wiesn natürlich ein Witz. Bloß wird im Karneval ganz anders, nämlich egalitärer und rücksichtsvoller gefeiert: Rosenmontag stehen alle gemeinsam draußen in der Kälte, frieren, trinken, singen, feiern. Kommt noch wer nach, rückt man halt ein bisschen enger zusammen. Und beim Kamelle Fangen gibt es auch keine besten Plätze. Wenn der nächste Umzugswagen mit den Bonbon-Werfern anrollt, dann wird stattdessen erstmal Platz gemacht für die Kinder, die sich nach den Bonbons zwar am meisten verzehren, aber als schwächste Mitglieder der Karnevalsgesellschaft ohne die Rücksicht der anderen nix von dem Süßkram abbekämen. Als diplomierte Küchenpsychologin möchte ich behaupten, dass zum Exzess des Volksfestes auch die Verkleidung wesentlich dazugehört: Andere Klamotte und damit zugleich eine alternative Identität übergestülpt und schon tue ich Dinge, die mein zivilisiertes Ich nicht einmal denken würde. In meiner eigenen karnevalistischen Karriere kann ich mich da unter anderem an folgende Kostüme erinnern: Fuchs, Pippi Langstrumpf, Matrosin, Elfe, Irgendwas – Hauptsache seltsam, Mann, Gespenst. Um mich herum war es immer ähnlich bunt bevölkert. Denn wer wir sein wollen, und sei es nur für einen Tag, das ist individuell verschieden. Ganz anders auf dem Oktoberfest: Ich bin jetzt seit einem Jahr in München, habe also bereits zum zweiten Mal die Gelegenheit, mir live und vor Ort ein Bild von den Wiesn-Besuchern zu machen. Und dieser Trachtenaufzug, nun, man mag das traditionell nennen. Oder aber: Uniformiert statt kostümiert. Als Frau sehe ich nicht viel mehr Alternativen zum Dirndl, als in Lederhosen-Hot-Pants ganz verwegen mit meiner Geschlechtsidentität zu spielen. So ich mich denn für den Wiesn-Besuch extra in Schale schmeißen will. Für die Männer sind die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten noch begrenzter. Jungs im Dirndl habe ich jedenfalls noch nicht entdeckt. Bleibe ich beim bewährten Dirndl, habe ich zu beachten: Dirndl ist nicht gleich Dirndl. Pfuibäh, wer in Mini-Tracht zur Theresienwiese pilgert. Auch sei an den mittleren Skandal erinnert, den ein Totenkopf-Dirndl vor einiger Zeit ausgelöst hat. Achso, dass die Funkemariechen in Uniform durch den Karneval hüpfen, beweist nicht, dass es im Karneval genauso zugeht. Der Einheitslook dient hier vor allem dem künstlerischen Ausdruck, denn synchrones Beineschmeißen, durch die Luft Wirbeln und im Spagat Landen wirkt im gleichen Gewand noch einen Tick virtuoser. Das kann man so ähnlich auch bei, sagen wir mal, DJ Bobo und seinen Background-Tänzern begutachten, wenn sie über die Bühne der Delmenhorster Veranstaltungshalle fegen. Wenn man also von den Gardetänzerinnen absieht, gilt unter Karnevalisten ansonsten ganz sprichwörtlich: Jeder Jeck ist anders. Ein Volksfest ist ein Symbol, das nach innen und nach außen wahrgenommen wird. Immer, wenn ich jemanden sagen höre, er assoziiere mit Deutschland (neben Autobahn, Nazis und Gummibärchen) Oktoberfest, Dirndl und Lederhosen - dann finde ich das schade. Schade, dass nicht zuerst der vielfarbig schillernde, egalitäre Karneval, sondern das pseudo-exklusive, uniforme Oktoberfest mit Deutschland assoziiert wird. Dabei ist der Karneval das bessere Oktoberfest. Ein echtes Volksfest, wie es dem Land, in dem wir leben, entspricht. Oder besser: Zumindest meinem Wunsch, wie dieses Land sein sollte. Gleichberechtigt, bunt und individuell, aber im Freudentaumel vereint. Alt-Trinker, Fasching- und Fastnacht-Sager, mag ich mit meiner Argumentation verärgert haben, weil ich bloß auf den Karneval, wie ich ihn kenne, eingegangen bin. Aber alles andere wäre unredlich, ich bin mit diesen Spielarten der fünften Jahreszeit nicht vertraut. Seid gegrüßt, ein solidarisches Helau, Alaaf und Prost an euch! Achso, und ihr da draußen, denen die Frage Karneval oder Wiesn völlig wumpe ist, weil ihr als verkopfte Feingeister sozial gebilligtes Saufen und Kotzen zu greislicher Musik prinzipiell daneben findet: Die ultimativen Argumente für euch, die habe ich mir noch für den Schluss aufgehoben. Als Bonbons, die ich jetzt von meinem Rosenmontagsumzugswagen in die Menge werfe, auf dass ihr sie begierig in euren umgedrehten Regenschirmen auffangt: 1. Wer statt Tracht ein Karnevalskostüm mit Maske trägt, sieht durch die schmalen Augenschlitze viel weniger von dem Elend. 2. Rosenmontag fällt allermeistens auf einen frostigen Februartag. Die Chance, dass wegen Kälte, Eis und Glätte der Umzug und damit der schlimmste Exzess einmal ausfallen könnte, ist theoretisch betrachtet erheblich höher, als dass die fast noch spätsommerliche Wiesn abgesagt wird. 3. Praktisch ist das in der Tat noch nicht vorgekommen. Aber immerhin: Der karnevalistische Ausnahmezustand dauert bloß von Weiberfastnacht bis Aschermittwoch, eine knappe Woche. Das Oktoberfest müsst ihr doppelt so lange ertragen.