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Die Zettel-Liebschaft

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Meine Arbeitstage hier in der Redaktion beginnen fast immer gleich. Es gibt drei Handlungen, die jeden Tag exakt dieselben sind. Die ersten beiden: Mailprogramm öffnen. Internetbrowser öffnen. Die dritte: Meine To-Do-Liste durchgehen.  

Die ersten beiden Handlungen unterscheiden sich von der dritten in einem wesentlichen Punkt: Sie finden am Computer statt. Die To-Do-Liste nicht. Die führe ich auf Papier, auf einem Block oder auf kleinen weißen Karteikärtchen, die seit einer Weile in einem Stapel auf meinem Schreibtisch liegen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Sie wird nicht überlagert von neuen Fenstern auf dem Bildschirm. Sie lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie ist einfach nur da: Die To-Do-LIste auf Papier.

Eigentlich ist das ziemlich seltsam, denn der durchschnittliche Student oder Büromensch unserer Zeit verbringt wahrscheinlich 90 Prozent seiner Arbeitszeit in digitalen Gefilden. Er kommuniziert vor allem Per Mail. Er koordiniert seine Termine digital. Er erstellt Dokumente, Präsentationen, Grafiken, gibt Daten in Programme ein und lässt sich andere ausspucken. Nur die To-Do-Liste, die kritzelt er mit einem Kugelschreiber auf ein Stück Papier.  

Ich bin da nämlich nicht der einzige. Ich weiß das. Repräsentative Umfragen über To-Do-Listen sind natürlich schwer aufzutreiben, aber indiskrete Blicke auf die Schreibtische der Kollegen ergaben: einen Kantersieg der Papier-To-Do-Liste. Niemand tippt sich seine Tagesagenda ins Handy oder den Rechner. Noch nicht mal unser Programmierer. Der hat ein Moleskine-Buch. Fragt sich nur, warum.  

Die To-Do-Liste ist das Geländer, an dem man sich durch den Tag hangelt. Sie gibt Sicherheit. Sie beruhigt. Und das umso mehr, wenn sie kein Fenster auf dem Rechner ist. Denn wenn das Telefon klingelt und auf dem Bildschirm gleichzeitig Hinweise auf neue Mails und Skypenachrichten aufploppen, bedeutet all das natürlich nichts anderes als Fragen, Neuigkeiten – eben Dinge, um die man sich kümmern muss. Input, Zerstreuung. Die Liste auf dem Schreibtisch lässt sich von diesem Input nicht beeindrucken. Sie wird nicht überlagert von neuen Fenstern auf dem Bildschirm. Sie lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie ist einfach nur da. Mit ihr können wir die digitale Gleichzeitigkeit entschleunigen, sie in eine Ordnung pressen und strukturieren. Indem wir aus dem Input Aufgaben destillieren. Ich habe das Gefühl, dass dieser Prozess besser funktioniert, wenn dabei die Grenze zwischen Digitalem und Analogem überschritten werden muss. Nur, was aus dem Bildschirm heraus durch unser Gehirn, unsere Nervenbahnen, unsere Finger und den Stift gewandert ist, ist wichtig. Nur wenn sie nicht einfach mitsamt eines Browers abstürzen kann, ist die Aufgabe eine echte Aufgabe. 

Vielleicht noch wichtiger für das hartnäckige Verharren der To-Do-Liste auf den Schreibtischen ist etwas anderes: das Durchstreichen. Ich bin mir sicher, dass das Durchstreichen einer Aufgabe auf der To-Do-Liste eine Endorphinausschüttung auslöst. Und zwar mehrmals. Während bei der digitalen Liste das Erledigte einfach mittels Delete-Pfeil für immer ausgelöscht wird, bleibt es auf der geschriebenen Liste erhalten. Man sieht, was man geschafft hat, weil es noch da steht, durchzogen von diesem zauberhaften Stich, der laut und deutlich sagt: geschafft! Done! Weg! Und wenn die Aufgabe auf dem Zettel ein besonderes Arschloch war, kann man sie sogar so richtig gewalttätig durchstreichen. Mit Doppel- oder Dreifachstrich, so fest aufgedrückt, dass der Hass sich durchpaust und auch zu sehen ist, wenn man das Kärtchen umdreht oder im Block umblättert. Das tut gut. Das ist um Welten besser als eine Delete-Taste.  

Auf Papier kann man den Punkten einer To-Do-Liste viel mehr Ausdruck verleihen. Man kann Listenpunkte unterstreichen, mit Ausrufezeichen versehen, einkreisen, nachfahren, bis die Buchstaben fett sind. Klar, geht irgendwie auch digital, aber da sind die Abstufungen sehr viel gröber, die Nuancen werden nicht deutlich. Eine Papierliste ist, wenn man so will, empfänglicher für Emotionen.

Ich streiche auf meiner Liste jetzt einen Punkt durch: „To-Do-Listen-Text“ steht da. Es wird kein wütender Strich. Trotzdem enorm befriedigend.



Text: christian-helten - Foto: steffne / photocase.com

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