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Das soll ich sein?

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Mein Elternhaus habe ich am liebsten durch den Keller verlassen. Denn neben der Kellertür hing ein Spiegel, in dem ich mir immer gefiel. Da konnte ich reinschauen und noch mal kurz „Ja, so kannst du vor die Tür gehen!“ denken, bevor ich wirklich vor die Tür ging. Wenn ich hingegen durch die normale Haustür ging, kam ich am Spiegelschrank im Flur vorbei, in dem ich unförmiger und bleicher aussah. Wenn ich da hineinschaute, fiel mir das Rausgehen viel schwerer. Das ist bis heute so, wenn ich meine Eltern besuche. Ich kenne diese Spiegel. Ich kenne mich in diesen Spiegeln. Ich kenne dadurch mich in meinem Elternhaus.

Jeder hat in seinem Alltag ein paar Standard-Spiegel. Die, an denen er an einem gewöhnlichen Tag immer vorbeikommt, in die er bewusst oder nebenher schaut, die er kennt und von denen er weiß, ob er darin besonders blass oder besonders schlank aussieht. Und diese Standard-Spiegel prägen unser Selbstbild mehr als wir denken. Man vergisst das bloß – und erinnert sich wieder daran, wenn sich die Spiegelkonstellation auf einmal ändert. Mir ist das gerade passiert: Ich bin umgezogen. Die Spiegel, die ich bisher benutzt habe, nicht.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

"Ja, so kannste vor die Tür gehen!"

In meiner alten WG gab es im Flur einen Ganzkörperspiegel. Der war mein regelmäßiger Checkpoint. Er gab mir das Gefühl, meinen Körper unter Kontrolle zu haben. Ich konnte ihn anschauen und feststellen, ob er mehr oder weniger geworden war, wie er nach übermäßigem Alkoholkonsum aussah und wie nach dem Urlaub, wie in der neuen Hose und wie mit dem alten Pulli, den ich monatelang im Schrank vergessen hatte. Es gab auch den kleinen Spiegel im Durchgang zur Küche, in dem mein Gesicht immer sehr frisch aussah, und den großen Badspiegel, dessen Beleuchtung meine Augenringe etwas zu stark betonte. Diese Spiegel prägten mein Selbstbild drei Jahre lang, zusammen mit dem Aufzugspiegel und dem Toilettenspiegel im Büro. Der Ganzkörperspiegel im Flur stand dabei im Mittelpunkt, als Überblick, als eine Art Eichwertung.

In der neuen Wohnung gibt es (noch) keinen großen Spiegel. Nur einen sehr kleinen im Bad. Da passt mein Gesicht rein, meine Schultern kann ich auch noch sehen, dann ist es schon vorbei. Das lässt mich ratlos zurück. Ich kann mich nicht mehr so sehen, wie ich mich jahrelang gesehen habe. Ich muss nach Gefühl gehen, kann das Gefühl aber nicht mehr überprüfen. Die Hose fühlt sich heute so eng an – sieht sie auch eng aus? Wenn ich an mir runterschaue, scheint das frisch gewaschene T-Shirt doch sehr ausgeleiert zu sein – sieht es auch von vorne betrachtet so aus? Mein täglicher Gegenschuss ist verlorengegangen. Es bleibt nur der kleine Badspiegel. Aber auch der zeigt mir ein anderes Gesicht als der alte, große. Oder: Ich vermute zumindest, er könnte das tun. Immerhin ist das Licht hier anders. Vielleicht ist meine Haut ja viel schlechter geworden und ich sehe es bloß nicht.

Noch traue ich dem neuen Spiegel nicht. Ist meine Haut schlechter, und ich sehe es nicht?


Nie kommen wir dem Blick eines anderen Menschen auf uns näher als beim Blick in den Spiegel. Aber so wie uns jeder Mensch anders sieht, sehen wir in jedem Spiegel anders aus. Der immer gleiche Spiegel, der alltägliche Standard-Spiegel ist deswegen wie der Blick eines guten Bekannten, dessen Urteil wir vertrauen, dessen Urteil wir einschätzen können. Er ist wie jemand, den man fragen kann: „Wie sehe ich im Vergleich zum Rest der Welt aus?“ Verschwindet dieser Spiegel aus unserem Leben, verschwindet auch der gute Bekannte. Und damit ein Stück unseres gewohnten Selbstbilds.

Ich bin durch die neue Spiegelsituation verunsichert, ich fürchte, ich könnte die Kontrolle verlieren. Allerdings ergibt das auch eine Menge Sinn: Ich habe den Ort gewechselt, das hat etwas in meinem Leben verändert, das hat sicher auch mich verändert. Die neue Wohnung bringt neue Rituale, in meinem neuen Zimmer fühle ich mich anders als in meinem alten. Es ist also nur logisch, dass ich mich an diesem neuen Ort auch anders sehe. Beziehungsweise erstmal gar nicht, denn ich hänge noch ein bisschen in der Luft. Ich muss ja noch ankommen, muss mich neu einnorden, die neuen Rituale zu wirklichen Ritualen werden lassen. Das braucht Zeit. Und bald kaufe ich mir einen großen Spiegel und stelle ihn in den Flur. Und dann lernen wir uns kennen, bis er ein guter Bekannter geworden ist, dessen Urteil ich vertraue.

Text: valerie-dewitt - Foto: evali / photocase.de

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