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Das Leben im Recall: Wie das Casting zum allgegenwärtigen Prinzip wurde

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Schillerstraße, Dachgeschoss. Ob sie an den Wochenenden heimfahren könne, wie viele Freunde sie in der Stadt habe und woran ihre bisherigen Beziehungen gescheitert seien. Das sind die Warmlauf-Fragen von Matthäus und Babs, zu denen Alva in der WG-Küche möglichst schnell und originell auf einem Schreibblock ihre Antworten skizziert. Mit einem Flur voller Menschen bewirbt sie sich um elf Quadratmeter Betonschlauch mit Guckloch auf den Parkplatz. Fünf Minuten bekommt die 23-Jährige, um ihre Vorzüge herauszustellen. Ja, spülen könne sie auch. Nein, kein Problem, das eben mal anhand ihrer Kaffeetasse vorzuführen. Matthäus schießt derweil ein Polaroid, auf dessen Rand er seine Bewertung krakelt, während sich im Negativ Alvas tapferes Lächeln entwickelt.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Es ist der dritte bizarre Besichtigungstermin in dieser Woche. Vergessen und vorbei die Zeiten, als einziehen durfte, wer nach dem Bauchgefühl am ehesten passte und als die Abkürzung WG auch noch für Weingläser stand, für Wettgrillen auf den Balkonen zum Innenhof und manchmal für Wildgehege. Jetzt entscheidet sich der Verstand für den Wohnwilligen, der am wenigsten schmutzt und einem die meisten Vorteile bringt. Alva, die für ihr Hauptstudium in Medizin Stadt, Bleibe und Freunde aufgibt und den Neuanfang wagt, nimmt es gelassen. „Heute geht jeder geht auf Nummer sicher, ist doch klar.“ Willkommen in der Generation Castingwahn. Dass im beruflichen Wettbewerb für irrwitzig viele Bewerber gnadenlos wenige Plätze bereitstehen, haben wir längst akzeptiert. Wir stellen uns mit immer mehr Konkurrenten stundenlangen Auswahltests, um aufs Gymnasium zu kommen. In der Oberstufe zählt nicht mehr, sich überhaupt irgendwie durchs Abitur zu wursteln, sondern nur noch ein Notenschnitt im Elitebereich. Dann, im Sommer, wenn plötzlich alles möglich ist, Tauchen auf Hawaii oder Streunen durch Shanghai, kämpfen wir um Studienplätze in Jura, Wirtschaftsmanagement und Architektur, absolvieren mehrstufige Zulassungstests, preisen uns in seitenlangen Motivationsschreiben an und reichen die gewünschten Sprachbescheinigungen ein. Nebenbei arbeiten wir ohne Bezahlung und auf Probe, wir hangeln uns durch Assessment-Center. Um irgendwann eine wirkliche Chance zu bekommen. Durchschnitt ist Schimpfwort. Freisein geht anders. Wir sind es gewohnt, jederzeit auf dem Prüfstand zu stehen. Spotlight. Leistung. Wir haben es verinnerlicht. So sehr, dass wir selbst im Privatleben casten und uns möglichst teuer verkaufen wollen – oft ohne es zu merken. Wie fühle ich mich im ICE und wie beim Aufstehen? Rund um die Uhr lockt die Versuchung, in sozialen Online-Netzwerken einen geistreichen Spruch zu bloggen, sich mal verträumt, mal mutig, mal lustig zu geben. Auch Alva ist dabei. „Hab mir von einer 67-jährigen Bochumerin die Haare schneiden lassen“, dokumentiert sie ihren Tag. Daneben platziert sie das Bild eines Lamas mit verhunztem Bob. Zur Entspannung ein paar absurde, realitätsferne Charaktertests. Welcher Käse bist du? Gorgonzola. Welcher Turnschuh? Converse. Welcher Rockstar? John Lennon. Sie dokumentiert die belanglosen Ergebnisse mit feiner Selbstironie. Sie ist lässig. Alles im Griff. Marke Alva. Vielleicht ist die abgeklärte Alva im Herzen eine Abenteurerin. Darin hat sie sich nie getestet. Das obligatorische Auslandsjahr, ein Zusatzpraktikum im Krankenhaus, ja. Aber sie hat Angst davor, sich zurückzulehnen. Nicht zu wissen, was kommt. Angst, abzuwarten oder falsche Entscheidungen zu treffen und irgendwann unglücklich zu sein. Sie will keine Zeit verplempern. 23, so jung findet sie das nicht mehr. Und das Schlimme ist, dass wir sie verstehen. Wer studieren, ins Ausland, promovieren, heiraten, Kinder kriegen, arbeiten will, hat einen strammen Lebensplan. Perfektionismus erträgt keinen Zufall. Und eine Generation im Bewerbungs- und Bewertungsnahkampf erträgt keinen Tiefschlag. Selbst auf Geburtstagspartys sind wir mittlerweile bestens vorbereitet. Denn auch wenn wir dort kaum jemanden kennen: Wir wissen Bescheid, wer kommen wird, wer uns interessieren könnte und wie wer aussieht. Die virtuelle Gästeliste hängt auf Facebook aus und erlaubt, unsere potenziellen Freunde und Partner zu bewerten, über sie zu befinden und zu beraten, lange bevor wir uns das erste Mal zu Gesicht bekommen. Alter, Abschluss, musikalische, sexuelle und politische Ausrichtung? Beziehungsstatus? Alles recherchiert und vorgegooglet. Zu lässige, massige oder tussige Fotos? Aussortiert. Die Gefahr, dass Unerwartetes passiert, ist auf ein Minimum reduziert. Und auch, wenn wir so von vornherein wissen, dass der Abend sterbenslangweilig wird: Das Vorspiel undercover zumindest, das ist aufregend. „Recall, Donnerstag, 19.30 Uhr“, hatte Matthäus geschrieben. Im Wohnzimmer Schillerstraße will er nun herausfinden, wie Alva und die zwei weiteren Finalisten zu Barack Obama stehen, was sie von Brettspielen halten und ob sie gerne baden. Diesmal stehen Wein und Salzletten auf dem Tisch. Es soll eine gemütliche Runde werden, um sich endlich richtig kennenzulernen. So der Plan. Sich locker zu geben, während einen das Umfeld kritisch beäugt, das nicht leicht. Aber im Grunde machen wir ja nie etwas Anderes. Zu lange schon sind wir PR-Agenten in eigener Sache, um beim Showdown unterzugehen. Alva weiß nichts über ihre beiden Mitbewerber, dafür so Manches über ihre potenziellen Mitbewohner. Matthäus` Profil steht offen zugänglich auf StudiVZ, was an sich schon eine Aussage ist. Dazu auffällig viele Fotos, auf denen er mit auffällig vielen Männern vor den Eingängen zu Schwulenclubs schäkert. Babs hat ihren Beziehungsstatus kürzlich auf „Das ist kompliziert“ umgestellt. Ihr Wissen behält Alva für sich, aber es gibt ihr ein Gefühl von Augenhöhe. Früher stellte man sich Biolehrer nackt vor, um Referate zu überstehen. In Zeiten des Web 2.0 verwandeln sich vermutete Details in detaillierte Kenntnisse. Damals, lange bevor uns durchschnittlich 130 so genannte Freunde detailliert an Lust und Frust bei Tag und Nacht teilhaben ließen, schrieben wir Tagebuch und reichten Poesiealben durch die Bankreihen in der Schulklasse. Es war keine schlechte Zeit, als in den Büchern, die man mit Freunden tauschte, unter „Meine Lieblingsstars“ Rudi Völler, Mehmet Scholl und David Hasselhoff standen und einem ausnahmslos jeder zum Schluss „Viel Glück auf deinen Wegen“ wünschte. Statt einander online zu beschnüffeln und über unseren Gemütszustand zu meditieren, gingen wir unter die Leute. Unvorbereitet, unvoreingenommen, gespannt auf Neues. Wir machten Freunde, einfach so. Wilde Zeit. Von Matthäus, Babs und der Wohnung hört Alva nichts mehr. Im Bus zur Uni drückt sich dafür Max in ihr Leben. Im Netz findet sie in den kommenden Wochen nichts über ihn, was sie nicht schon wüsste. Er fragt sie, ob sie ihn vor Partys mit Online-Einladung wohl gedanklich aussortiert hätte. Für wen sie ihr Profil im Netz bewirtschaftet. Ob sie sich ein Zimmer bei Freunden ansehen möchte.

Text: veronika-beer - Illustration: Katharina Bitzl

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