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Auf dem Weg zum gut gelaunten Unwissen

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Eine der wichtigsten Verheißungen des Internets besagt, dass das Wissen der Welt endlich jedem kostenlos zugänglich gemacht wird. Viele sagen, es würde „demokratisiert“, was aber klingt, als würde die Mehrheit der Wahlberechtigten darüber entscheiden, was gewusst werden soll, und so ist es ja nun auch wieder nicht. Das Wissen der Menschheit ist aber zumindest verfügbar. Die New York Times hat kürzlich ihr gesamtes Archiv geöffnet, Google scannt alle Bücher, bei Wikipedia schreibt jeder, der etwas weiß, einfach hin, was er weiß und wird von denen korrigiert, die es besser wissen. Es geht sogar soweit, dass auf persönlichen Profilen in sozialen Netzwerken und in Blogs der Welt Wissen angedient wird, dessen Dringlichkeit bisweilen diskutabel ist. Aber was soll’s: Es ist Wissen. Damit haben die Menschen ohne Frage einen riesigen Schritt getan. Bis heute ist es immer so gewesen, dass das Wissen in den Händen weniger lag, auch wenn es im Laufe der Jahrhunderte gemächlich immer mehr wurden. Vor Gutenberg hatte noch eine Handvoll Mönche darüber entschieden, welche Bücher vervielfältigt wurden und welche nicht. Aber auch danach waren Regierungen und Konzerne immer daran interessiert, den Wissensfluss zu steuern, schließlich gibt es für totalitäre Systeme keine größere Gefahr als ungelenktes Wissen. In der Wirtschaft kann die richtige Information zum richtigen Zeitpunkt über Gedeih und Verderb ganzer Zweige entscheiden. Und an der Börse gewinnt oder verliert man mitunter Millionen, wenn man Wissen hat oder eben nicht. Mit dem Internet soll das Wissen nun also den Händen der wenigen entrissen werden. Alles, was man wissen kann, soll jedem gehören. Wenn der irakische Informationsminister vom baldigen Sieg spricht, während die amerikanischen Truppen bereits in der Innenstadt von Bagdad campieren, wird aus dem entsprechenden YouTube-Clip ein netter Internet-Witz. Der Versuch, Informationen zu steuern oder zurückzuhalten, wirkt gestrig, komisch und wie aus einer vergangenen Epoche. Das Wissen ist für alle da. Und damit fangen die Probleme an. Der Stanford-Wissenschaftshistoriker Robert Proctor, der mit einem Buch über Anti-Tabak-Kampagnen im Dritten Reich einige Berühmtheit erlangt hat, hat mit ein paar Kollegen vor kurzem ein neue Wissenschaft erfunden: die Agnotologie. Diese Forschungsrichtung beschäftigt sich nicht mit dem, was man weiß, sondern mit einem unendlich viel größeren Feld, nämlich all dem, was man nicht weiß. Dass sich (außer Kathrin Passig mit ihrem „Lexikon des Unwissens“) noch niemand wirklich mit dem Nicht-Wissen auseinander gesetzt hat, findet Proctor merkwürdig, wenn man sich vor Augen führt, „(a) wie viel Unwissen es gibt, (b) wie viele unterschiedliche Arten von Unwissen es gibt, und (c) wie viel Einfluss Unwissen auf unsere Leben hat“, wie er in seinem in Deutschland weithin unbekannten Band „Agnotology – The Making and Unmaking of Ignorance“ schreibt. Unwissen kann laut Proctor viele Gründe haben – wie etwa Dummheit, Apathie, Zensur, Glaube, Desinformation oder Vergesslichkeit – muss aber gleichzeitig überhaupt nichts Schlechtes sein. Man verbringt viel zu viel Zeit und Anstrengung damit, sein eigenes oder das allgemeine Nicht-Wissen zu minimieren. Dabei ist es ja so, dass jeder verschiedene Dinge weiß, von denen er nicht möchte, dass sie andere wissen. Man weiß sogar Dinge, die man selbst lieber nicht wissen würde. Das meiste davon geht einen aber auch überhaupt nichts an, denn wahrscheinlich ist es privat. Unser Begriff von Privatsphäre ist nichts anderes als Unwissen, das alle respektieren. Allerdings läuft die Existenz von Unwissen dem Erkenntnisinteresse, das den Menschen offenbar eingeschrieben ist, vollkommen zuwider. Ähnlich wie jede Krise gern als Chance verkauft wird, wird einem eingeredet, dass Wissenslücken durchaus fruchtbar sein können – man hat dann nämlich die Gelegenheit, sie zu beseitigen. Der Imperativ, immer mehr wissen zu sollen, führt allerdings dazu, dass man sich immer schuldig und minderwertig fühlt, denn man kann – so sieht es leider aus – de facto nicht alles wissen. Man glaubt, sich um das meiste, was auf der Welt geschieht, nicht sorgen zu dürfen, weil man dafür zu wenig Kenntnis hat. Man weiß, dass man sehr viel nicht weiß und begibt sich infolgedessen in eine Haltung starrer Apathie. Das Gegenteil dieses latenten Gefühls der Schuld, das durch den Informations-Overkill produziert wird, ist das Gefühl der Unschuld, für das man kleine Kinder gemeinhin beneidet. Der Vorsprung, den die Kleinkinder allerdings haben, ist kein Vorsprung an Nicht-Wissen. Gemessen an allem, was man selbst und die ganze Menschheit nicht weiß, wissen Erwachsene kaum mehr als Kindergartenkinder. Vielmehr fühlen sich die Kleinen wegen ihres Unwissens noch nicht klein und belanglos. Wenn man so möchte, ist das gut gelaunte Unwissen das höhere Stadium. Was wir als edles Erkenntnisinteresse und bürgerliches Bildungsideal betrachten, ist, wenn man es durch Robert Proctors Brille betrachtet, nichts anderes als ein Wettbewerbs- und Wachstumsmotor. Unwissen ist eine Ressource, sagt der Autor. Wie Öl oder Kohle wird es abgetragen, um die Räder des Wissenswachstumsbetriebs in Bewegung zu halten. Der intelligentere Mensch ist aber bisweilen der, der sich gut damit fühlt, nicht alles zu wissen. Gleichzeitig ist das Internet nichts anderes als ein unfassbar riesiger Umschlagplatz für Wissen aller Art. Und wer mit Informationen handelt, macht sich praktisch immer der Manipulation schuldig. Jede Nachricht in der Zeitung, jede Meldung im Feedreader ersetzt unendlich viele, die dort auch hätten stehen können. Klüger wird man nicht, wenn man das alles liest. Man teilt nur mit allen anderen denselben Ausschnitt aus all dem, was man wissen könnte. Wer das alles nicht liest, hat keinen engeren Horizont, sondern einen individuelleren. Er hat sein Wissen selbst in der Hand. So gesehen ist der selbstbestimmtere, mündigere Mensch der, der nicht seinen gesamten Feedreader liest. Er hat es geschafft: Er lässt sich nicht davon einschüchtern, täglich fünfhundert Nachrichten nicht gelesen zu haben. Das alte aufklärerische Ideal, nach dem immer mehr Informationen zu immer mehr Klugheit und Mündigkeit führen, dreht sich plötzlich um. Proctor erinnert daran, dass schon 1991 der Medienanalytiker Sut Jhally in einer Studie belegt hat, dass die Desinformation über den Golfkrieg proportional zu der Zeit gewachsen ist, die ein Probant Fernsehnachrichten über das Thema gesehen hat. Offenbar ist es also genau umgekehrt: Offenbar produzieren immer mehr Informationen immer mehr Unwissen. Demnach wäre unser Zeitalter so reich an Unwissen wie noch keines zuvor.

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