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Liebe „Traveler“, ihr nervt!

Foto: MichaelJBerlin / photocase.de

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Der neueste Facebook-Post zeigt Anja, die mit einer Kokosnuss am Strand von Mexiko liegt. Ihr Blick ist an Glückseligkeit kaum zu überbieten. Darunter #traveler, #travellife, #letsgosomewhere. „Wunderbares Bild!“, „Ich wünsche dir eine tolle Zeit auf deiner Reise“!, „Absolutely amazing“, kommentieren andere. Ich scrolle weiter.

Nach ein paar Artikeln über Sondierungsgespräche und Life-Hacks wieder ein bekanntes Gesicht. Lara grinst in die Kamera, umringt von einer Schar fröhlich lachender asiatischer Kinder, auf ihrem Rücken ein riesiger Rucksack. Auch hier: Die Facebook-Community überschlägt sich vor Begeisterung. Mein Blick schweift aus der S-Bahn, draußen regnet es. Keine Sonne, kein Strand. Na immerhin, ein paar einheimische Kinder werden sich wohl auch hier in den Straßen herumtreiben. 

Stunden später sitze ich mit einigen Freunde auf einer Party. „Wenn du nach Thailand fliegst, ist Ko Chang ein Muss!“, rät die eine dem anderen. „Ich finde es ja wahnsinnig wichtig, dass ein Backpack richtig sitzt,“ sagt jemand. Schnell gieße ich mir noch einen kräftigen Schluck Rotwein nach. Ich habe keine Ahnung, wo Ko Chang liegt, und wenn ich es mir recht überlege, hatte ich noch nie in meinem Leben einen Backpack auf.

Natürlich habe auch ich schon Urlaub gemacht, aber ich war nie länger als zwei, vielleicht drei Wochen unterwegs. Das waren dann auch keine All-inclusive-Club-Urlaube, sondern Reisen mit dem Auto durch Rumänien, zehn Tage in Istanbul, von Nord nach Süd mit dem Zug durch Portugal oder eine Rucksacktour an der Küste Montenegros. Ja, eine Reise mit einem Rucksack, allerdings keinem Backpack. Handgepäck war im Preis inbegriffen: Dank einer ausgeklügelten Einroll-Einpack-Technik schaffte ich die zwei Wochen auch mit kleinem Gepäck. In manchen Punkten können also selbst Backpacker noch von mir lernen.

Was die GSG 9 für Polizisten ist, sind die „Traveler“ für Urlauber

Warum fühlt es sich für mich trotzdem so an, als sei ich nur dann ein akzeptierter Teil der Gesellschaft, wenn ich möglichst viel und vor allem möglichst lange reisen war? Ich glaube ja, dass sich die „Traveler“ als eine Art Elitegruppe verstehen. Was die GSG 9 für Polizisten ist, sind die „Traveler“ für Urlauber. In ihrem Wortschatz wurde „Urlaub machen“ durch „Reisen gehen“ ersetzt, „Gepäck“ durch „Backpack“ und „Hotelbett“ durch „Dorm“. Sie alle haben ein Arsenal an Reiseführern und diese wahnsinnig dünnen Mikrofaserhandtücher, die im Urlaub im Gepäck kaum Platz wegnehmen. Ähm, ich meine auf Reisen im Backpack.

In der Traveler-Wohnung, in der natürlich nur äußerst selten jemand zu Hause ist, hängt an der Wand ganz plakativ eine Weltkarte, auf der man die bereits bereisten Länder freirubbeln kann. Wirklich fancy. Und was für eine Überraschung: Fast kein Land hat noch die ursprüngliche graue Farbe. Außer Belgien (Exotiklevel: null), Syrien (Spannungslevel: überschritten) und halt Nordkorea.

Der Medizinstudent kann einpacken, wenn Paul von seiner Radltour durch Kasachstan erzählt

Was früher das Einser-Abi war, ist heute die Neuseelandreise mit 18. Das Praktikum beim Branchenriesen wird vom Auf-eigene-Faust-Trip durch Südamerika übertroffen. Und der Medizinstudent mit all seinen Kranken und Toten kann einpacken, wenn Paul von seiner Radltour durch Kasachstan erzählt. „Toll, dass die sich das trauen!“ – selbst die eigene Verwandtschaft hat für die Reisen meiner Freunde oft mehr Bewunderung übrig als für meine Projekte.

Eigentlich ist es ja absolut unterstützenswert, dass Leistung nicht alles ist, was zählt. Schwer ist es nur für die, die Selbstverwirklichung im Studium, im Job oder ihrer Karriere statt im ständigen Herumreisen finden. Denn sie sind in den Augen der Reise-Elite ängstlich und langweilig. 

„Hast du denn eigentlich gar keine Lust, mal länger zu reisen?,“ werde ich gefragt. Keine Lust?! Soll das ein Scherz sein? Ich like eher selten Facebook-Posts, aber als auf Jodel Normalos, die gerne Reise-Hashtags benutzen, mit „Fick dich, jeder macht gern Urlaub“ kommentiert wurden, gab es von mir sofort den Daumen hoch. Auch ich würde lieber im Urwald lustige Tiere bestaunen, als die Regentropfen an der Scheibe der S-Bahn zu beobachten. Klar, meine Stimmung würde an einem einsamen Strand in Vietnam sicher besser sein, als auf meinem Drehstuhl in der Arbeit.

Aber für mich gibt es Dinge im Leben, die mir wichtiger sind, also fehlt mir für das lange Herumreisen schlichtweg die Zeit. Ich habe einen Plan für meine Zukunft und wenn ich mein Ziel erreichen will, dann sieht der erst einmal keine größeren Reisen vor. „Pffffhhhh, langweilig. Eigentlich hat sie nur Angst und will es nicht zugeben“, ätzt nun der routinierte „Traveler“. Frei nach dem Motto: Was ich für mich nicht will, kann jemand anders auch nicht wollen.

An diesem Punkt möchte ich ganz ehrlich sein: Natürlich hätte ich großen Respekt davor, an den entlegensten Orten der Welt nach einer Unterkunft zu suchen und ganz alleine unterwegs zu sein. Ich bewundere meine Freundin Luisa dafür, dass sie sich alleine durch Nepal schlägt. Aber an der bloßen Angst scheitert es sicher nicht – schließlich ziehe ich in der Zwischenzeit andere Sachen durch, die mir auch einiges abverlangen. 

Ich werde weiterhin überzeugt „Urlaub machen“ statt „reisen gehen“ sagen

Und jetzt mal ehrlich, eine Frage muss dringend geklärt werden: Ab wann ist man eigentlich ein „Traveler“? Nur weil Lotte mal für zwei Monate in LA war oder Markus mehrere Wochen durch Südafrika gereist ist, sind sie doch keine Weltenbummler? Oder etwa doch? Zählen dann auch meine Zwei-Wochen-Urlaube?

Und in manchen Momenten bin ich als bekennender Urlauber gegenüber den Möchtegern-Weltenbummlern ganz klar im Vorteil: Wenn ich möchte, kann ich jederzeit All-inclusive-Urlaub in Pula machen. Ich kann sogar guten Gewissens ins langweilige Belgien fahren. Hinter mir stehen keine Follower, die möglichst abgefahrene Reiseziele erwarten und es gibt keinen Ruf als „Traveler“, den ich in meinem Freundeskreis verteidigen müsste. Zudem erspare ich mir diesen emotionalen Tiefpunkt, den viele Reisende nach ihrer Rückkehr durchleben. „Ich weiß nicht, ob ich noch mal studieren oder lieber arbeiten soll“, jammern sie. „Ich glaube, ich gehe erstmal reisen!“ So beginnt ihr Teufelskreis aufs Neue, während ich zufrieden noch einen Schluck Rotwein trinke. 

Nein, ich will da gar nicht dazugehören. Ich werde weiterhin überzeugt eingerollte Kleidungsstücke in meinem viel zu kleinen Rucksack transportieren und mir vor Ort ein schrecklich gemustertes Badetuch kaufen, weil mein riesiges Handtuch das Gepäcklimit gesprengt hätte. Und ich werde weiterhin überzeugt „Urlaub machen“ statt „reisen gehen“ sagen.

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