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Warum werden Menschen nachts kommunikativer?
Neulich war ich mit dem Nachtbus unterwegs. Es war eine unglaublich unbequeme, achtstündige Fahrt von München nach Berlin. In dem voll besetzten Bus hatte jeder Fahrgast einen Sitznachbarn. Während wir durch die Nacht holperten, hatte ich viel Zeit, die Menschen um mich herum zu beobachten. Statt zu schlafen, wie es sich für eine Donnerstagnacht eigentlich gehört, unterhielten sich überraschend viele Fahrgäste miteinander. In der Sitzreihe vor mir hatten sich gerade eine Studentin und ein junger Mann kennengelernt. Sie führten auf Englisch eine Diskussion über das Bachelor- und Mastersystem. Auch in anderen Reihen war man fleißig dabei, Konversation zu betreiben.
Ich bin eine Fernbus-Vielfahrerin. Ich kenne das Verhalten von Menschen im Fernbus: Nur widerwillig wird die Tasche vom Nebensitz geräumt, um Platz für einen Neueinsteiger zu machen. Und spätestens nach fünf Minuten Fahrzeit sind die Kopfhörer im Ohr wie angeklebt. Egal, ob man tatsächlich Musik hört oder nur so tut. Kein Wunsch zur Kontaktaufnahme in Sicht. So ist das tagsüber. Deswegen war ich auf meiner Fahrt nach Berlin vollkommen perplex: Nachts scheinen sich die Regeln umzukehren! Woran liegt das? Hat die Nacht etwas an sich, das Menschen kommunikativer werden, ja sogar Freundschaften mit Fremden knüpfen, lässt? Und sollte das unserer menschlichen Natur nicht eigentlich widerstreben? Müsste der Mensch nachts nicht noch alarmbereiter sein als tagsüber?
Nachts können wir uns nicht mehr auf unsere am stärksten ausgeprägten Sinnesorgane – die Augen – verlassen. Auch eine sehr dumme Hauskatze ist uns im Dunkeln haushoch überlegen. Wer schon einmal versucht hat, in der Nacht ohne Licht mit dem Fahrrad durch ein Waldstück zu fahren, weiß, warum. Wir sind tagaktive Wesen. Als wir noch Jäger und Sammler waren, kam niemand auf die Idee, nachts zu jagen und zu sammeln. Eigentlich müsste sich unser Bedrohungsgefühl nachts verstärken, weil wir Gefahrenquellen später bemerken und dadurch weniger Zeit zum Reagieren haben.
Folgt man dieser Logik, so müssten sich gerade ängstliche Menschen nachts exponentiell bedrohter fühlen. Bemüht man Google, scheint das Gegenteil der Fall: In Foren zu sozialer Angst finden sich auffällig viele Einträge dazu, dass Betroffene sich bei Dunkelheit wohler fühlen. Der Grund: Sie sind den Blicken anderer weniger ausgesetzt. Vielleicht geht es also weniger um die Nacht als Tageszeit als um das ihr ureigenstes Merkmal: die Dunkelheit.
Dieser Anhaltspunkt liefert endlich eine Spur auf meiner Recherche. Einige Wissenschaftler haben sich mit der Wirkung von Licht – und dem Fehlen von Licht – auf das Sozialverhalten des Menschen beschäftigt. 2013 fand die Psychologin Anna Steidle mit Kollegen heraus, dass Versuchsteilnehmer in Räumen mit gedimmtem Licht kooperativer werden. Ihre Probanden spielten ein Computerspiel, bei dem sie Fische aus einem See angeln durften. Dabei sollten sie sich vorstellen, der See werde von zwei Fischern benutzt. Angelte der Spieler zu viele Fische aus dem See, um sie zu verkaufen, konnte sich der Fischbestand nicht mehr regenerieren. Das Ergebnis: Spielten die Teilnehmer in einem dunklen Raum, warfen sie mehr Fische zurück in den virtuellen See als in einem hellen Raum. Die Forscher schlossen daraus, dass das gedimmte Licht die Spieler Team-orientierter hatte werden lassen.
Dunkelheit lässt uns hilfsbereiter werden
Nicht nur die tatsächliche Umgebungshelligkeit hat eine Wirkung darauf, wie sozial wir uns verhalten. Allein die Vorstellung von Dunkelheit macht einen Unterschied. Studienteilnehmer sollten sich vorstellen, sie müssten zu zwei ein Referat halten. Zuvor bat sie der Versuchsleiter, sie sich an eine Situation zu erinnern, die entweder im Dunkeln oder im Hellen stattgefunden hatte. Anschließend sollten sie entscheiden, wie sie mit dem Präsentationspartner umgehen würden, wenn er Probleme mit seinem Teil der Präsentation hat. Die Personen, die sich zuvor an eine dunkle Situation erinnert hatten, zeigten eine größere Motivation, ihrem aufgeschmissenen Seminarpartner zu helfen als diejenigen, die sich eine Situation im Hellen vorgestellt hatten. Die Dunkelheit als Konzept, das uns hilfsbereiter werden lässt – weil wir alleine im Dunkeln keine Chance hätten?
Diesen Teamgeist kann man auch auf den Fernbus übertragen. So konnte ich beobachten, wie der einzige Passagier, der einen freien Platz neben sich hatte, dieses Privileg ohne Murren aufgab, als ein verzweifelter junger Mann klagte, sein momentaner Sitznachbar würde so furchtbar riechen, dass er es nicht mehr neben ihm aushielte. Ein bisschen Kooperationswillen kann das geteilte Leid einer nächtlichen Busfahrt für alle Beteiligten mindern.
Schwaches Licht sorgt bewiesenermaßen auch dafür, dass man sein Gegenüber sympathischer findet. In Studien dazu hat man sogar mit wechselnd ansprechender Einrichtung der Zimmer gearbeitet, in dem sich zwei Fremde zu wissenschaftlichen Zwecken begegnen. Egal, ob die Einrichtung spartanisch oder dekoartikelreich war, bei gedimmtem Licht wurden die Gesprächspartner offener und schlugen intimere Themen an als in der gleichen Situation in einem gut ausgeleuchteten Raum.
Im Schein winziger LEDs werden wir uns sympathisch
Licht hat also einen Einfluss darauf, wie wir einen Raum wahrnehmen. Schwaches Licht sorgt für eine intime Atmosphäre, die ein Gefühl von Vertrautheit auslöst. Das könnte also die Erklärung dafür sein, warum meine Mitreisenden nach Sonnenuntergang auf einmal so kommunikativ wurden. Sie wurden sich im Schein der winzigen LEDs an der Busdecke ganz einfach sympathisch. Wissenschaftlich gesehen kann man sich beim nächsten Date also getrost in eine ranzige Kneipe setzen, solange die Beleuchtung nur schlecht genug ist.
Ganz einig ist man sich aber auch in der psychologischen Fachwelt nicht, ob Dunkelheit uns zu besseren oder doch zu schlechteren Menschen macht. In einer amerikanischen Studie zeigte sich, dass Versuchsteilnehmer in einem schlecht beleuchteten Raum häufiger betrogen, wenn es um Geld ging. Allein eine Sonnenbrille zu tragen, reichte aus, um Versuchsteilnehmer selbstsüchtiger zu machen. Offenbar werden Erwachsene bei schlechten Lichtverhältnissen wieder zu Kindern, die ihre Hände auf die Augen legen und glauben, niemand könne sie sehen – sie sehen ja auch nichts.
So widersprüchlich diese Auswirkungen von Dunkelheit auf den Menschen auch klingen, sie basieren auf einem gemeinsamen Kern: Dunkelheit kann Anonymität hervorrufen. Die kann dann genutzt werden, um zu betrügen – oder helfen, intime Details leichter über die Lippen zu bekommen. Unser Instinkt scheint uns zu sagen: Wenn das Gegenüber nicht weiß, wer ich bin, dann ist es auch egal, wenn ich ihm pikante Familiengeheimnisse anvertraue. Eine moralische Übertretung ist in unserer Gesellschaft ja nicht nur, andere über den Tisch zu ziehen, sondern auch, ohne Grund jemanden anzusprechen, den wir gar nicht kennen – zum Beispiel unseren Sitznachbarn im Fernbus. Oder uns gar auf intimen Körperkontakt mit jemandem einzulassen, der vor ein paar Drinks noch ein Fremder war. One-Night-Stands gibt es nicht am Tag.
Schlechte Lichtverhältnisse führen zu größerer Anonymität, die wiederum zu enthemmtem Verhalten führt. Was aber der Ursprung unseres veränderten Sozialverhaltens bei Dunkelheit ist, bleibt unklar. Hier verweisen alle bisherigen Studien auf „zukünftige Forschung“, die das klären müsse. Ich finde, wir haben es hier mit einer gewaltigen Forschungslücke zu tun.
Bis sie jemand füllt, werde ich darüber mit meinem Sitznachbarn im Fernbus diskutieren. Aber erst nach Sonnenuntergang.