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Warum ich meine Nachbarn liebe

Illustration: Katharina Bitzl

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Bullerbü zum Beispiel. Da gab es nur drei Höfe, aber die lagen alle direkt nebeneinander. Lasse, Bosse, Lisa, Britta, Inga und wie sie alle hießen waren also Nachbarn und konnten jeden Tag miteinander abhängen, ganz selbstverständlich, weil sie Zaun an Zaun wohnten. Als Kind war ich sehr neidisch auf sie.

Aber nicht nur in Geschichten, auch im echten Leben neidete ich anderen ihre Nachbarn. Meine beste Freundin zum Beispiel wohnte in einem Mehrfamilienhaus und ein paar Stockwerke weiter unten wohnte ein Mädchen, das häufig an ihrer Wohnungstür klingelte und fragte, ob sie Zeit zum Spielen habe. Das Mädchen stand da auf Socken und ohne Jacke, denn sie hatte ja nicht das Haus verlassen müssen, um zu Besuch zu kommen. Wie toll ich das fand. Wie gerne ich das auch haben wollte.

Nicht, dass ich wohntechnisch irgendeinen Mangel gelitten hätte, im Gegenteil: Das Forsthaus, das wir bewohnen durften, solange mein Vater dort arbeitete, war im Vergleich zu der kleinen Wohnung meiner besten Freundin eine Art luxuriöse Riesenvilla, mit zwei Waschbecken im Badezimmer, einem unendlichen Garten und zwischen Wald, Maisfeld und Brachfläche gelegen. Nur eines hatte ich eben nicht: Nachbarn. Lange Zeit waren meine nächsten Nachbarn Wildschweine in einem Gehege. Obwohl ich die sehr liebte (wie übrigens auch das Haus) und sehr viel Zeit mit ihnen verbrachte, konnte ich trotzdem nicht auf Socken hingehen, klingeln und fragen, ob sie Zeit zum Spielen hatten. 

Leider musste ich lernen, dass Nachbarn oft einen schlechten Ruf haben

Meine Eltern hingegen genossen das nachbarlose Leben. Sie empfanden es als riesiges Privileg, für sie bedeutete es Freiheit, Unabhängigkeit, Ruhe. Ich habe das nie verstanden, schon damals nicht. Nachbarn, das waren in meiner Vorstellung Menschen, zu denen man gehen konnte, wenn man Gesellschaft wollte, aber auch dann, wenn man in Not war. Immerhin hatte man doch etwas gemeinsam, teilte ein Haus oder eine Straße, und gab daher aufeinander acht. Die Nachbarschaft verband die Menschen in meinen Augen zu einer Art Menschenrudel. Es lebte in Gruppen in benachbarten Höhlen, alle halfen und mochten sich gegenseitig, jeder einzelne hatte seinen Platz und seine Rolle, aber gehörte eben auch zum großen Ganzen. 

Leider musste ich mit der Zeit lernen, dass Nachbarn ganz im Gegenteil oft einen schlechten Ruf haben. Sehr viele Menschen meckern über sie. Wohnen sie in Mehrfamilienhäusern, sind die Nachbarn zum Beispiel zu laut, zu unfreundlich, kochen zu geruchsintensiv, wechseln zu oft, stellen das Treppenhaus oder den Keller voll, trennen den Müll nicht richtig, produzieren zu viel davon und so weiter. In Einfamilienhäusern sind sie auch zu unfreundlich, auch manchmal zu laut, parken falsch, streichen hässlich, sind zu neugierig, schneiden ihre Bäume nicht zurück und so fort. Es gibt sicher noch hunderte weitere Spießbürger-Meckereien über Nachbarn. Und vielleicht stimmen die sogar alle. Aber ich sehe trotzdem immer nur Vorteile in Nachbarn, sogar in den blöden. Die positive Vorstellung, die ich mir als Kind gemacht habe, kann mir kein noch so grantiger Typ von nebenan kaputtmachen. 

Dafür müssen meine Nachbarn gar nicht viel tun, weil mich vor allem die kleinen Nachbarzeichen sehr froh machen. Es reicht schon, wenn sie einfach Zuhause sind und das Licht anmachen. Ich genieße es bis heute, abends nach Hause zu kommen und das Licht in den Fenstern neben, über und unter meinen eigenen brennen zu sehen. Dann weiß ich: Da ist noch jemand außer mir, in seinen eigenen vier Wänden, aber ganz nah an meinen. Wenn ich gleich drin das Licht anmache, wird meins mit seinem zusammen nach draußen strahlen. Ich fühle mich dann auf eine gute Art eingehegt und sicher. Wie im Rudel eben.

Ich mag es, wenn über Nachbarn geredet wird und ich mitmachen kann

Weil ich so lange keine Nachbarn hatte, finde ich es aber auch nach wie vor sehr aufregend, ganz normale Nachbarschaftsdinge zu machen. Jemandem ein Paket geben, das bei mir abgegeben wurde, oder ein eigenes Paket anderswo abholen. Das ist, als würde man sich gegenseitig Geschenke überreichen. Noch spannender wird es, wenn ich etwas brauche und bei den Nachbarn klingeln muss, um es mir zu leihen. Da stehe ich dann in Socken und ohne Jacke, meine eigene, offene Wohnungstür im Rücken, und wenn mir Frau Soundso ihren Pürierstab überreicht, fühle ich mich nicht nur gut behütet, sondern noch dazu sozial kompetent – ohne, dass ich mich dafür ordentlich anziehen oder gar das Haus verlassen musste. 

Dass mir selbst grantige, blöde oder komische Nachbarn nicht die Laune verderben können, liegt aber nicht nur daran, dass ich so ein positives Grundgefühl Nachbarn gegenüber habe. Sondern auch daran, dass die eventuelle Blödheit der Leute nebenan einfach Teil des Rudel-Deals ist – und noch dazu oft gute Geschichten hergibt. Ich mag es, wenn über Nachbarn geredet wird und ich mitmachen kann. In einer meiner ersten WGs wohnte die Vermieterin im Stockwerk über uns und war sehr kauzig. Sie kontrollierte ständig die Mülltonnen und schrieb uns Briefe, die mit der Anrede „Liebe Damen im Parterre“ anfingen. Wenn ich mit meinen Mitbewohnerinnen über sie lästerte oder mit Kommilitonen das Gesprächsthema „Nachbarn“ aufkam und ich auch etwas dazu beitragen konnte, fühlte ich mich dazugehörig. Ich freue mich immer noch, wenn ich bezüglich Nachbarschaft mitreden, mitmeckern, mitlästern kann – ärgere mich dabei aber gar nicht richtig, sondern genieße das Gefühl, doppelt dazuzugehören: zu meiner Hausgemeinschaft und zu den Menschen, mit denen ich gerade spreche.

Meine Kindheit war auch ohne Nachbarn schön. Trotzdem beneide ich bis heute die Nachbarskinder, die im Hinterhof gemeinsam spielen oder zu einem Fenster raufrufen, damit ein weiteres Kind runterkommt und mitspielt. Ich muss dieses Gemeinschaftserlebnis nun eben als Erwachsene nachholen. Vor Kurzem bin ich umgezogen. Bei der Nachbarin von oben drüber saß ich schon am zweiten Tag im neuen Haus auf dem Sofa. Demnächst wollen wir Wein trinken. Sicher ist sie ganz toll. Und selbst wenn nicht, werde ich sie trotzdem lieben. Einfach, weil sie meine Nachbarin ist.

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