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Meine Theorie: Ich bin neidisch auf Fremde, die miteinander reden
Die beiden saßen in dem ICE-Vierer schräg gegenüber. Eine alte Dame in einem roten Pullover und einem langen Rock und eine junge Frau in einem Hoodie einer amerikanischen Universität. Ob sie dort studiert habe, fragte die alte Dame die junge Frau, und die junge Frau sagte "Ja", und die alte Dame erzählte, dass sie auch mal in den USA studiert habe, und dann sprachen sie über Amerika damals und heute und dann über Flüchtlinge in Europa und dann über die psychische Krankheit des Ehemanns der alten Dame und über eine ähnliche Erkrankung eines Freundes der jungen Frau, und ich starrte in mein Buch, ohne zu lesen, hörte zu, und war sehr, sehr neidisch. Ich war so neidisch, dass ich einem Freund eine Nachricht schrieb, wie interessant das Gespräch sei, dass ich gerade im ICE mithörte, und dass ich so gerne daran teilnehmen würde. Der Freund (Pragmatiker) schrieb: "Mach doch." Ich (Feigline) schrieb: "Trau mich nicht!"
Das passiert mir dauernd. Wenn Fremde miteinander ins Gespräch kommen, in der Kloschlange, in der U-Bahn, im Café, dann muss ich hinhören und dann werde ich neidisch. Es muss nicht mal ein besonders interessantes Gespräch sein, wie das der beiden Frauen im ICE-Vierer schräg gegenüber. Denn im Vierer vor mir sprachen auf der gleichen Fahrt lauter Einzelreisende (zwei ältere Männer, eine Frau, und ein jüngerer Mann, der eigentlich lernen wollte) miteinander über weniger interessante Themen, aber sie lachten viel und zeigten sich auf dem Handy gegenseitig Videos von Enkelkindern und ich starrte in mein Buch, ohne zu lesen, hörte zu, und war auch auf sie ein bisschen neidisch.
Eine (wie immer nicht repräsentative) Umfrage (in der Redaktion) hat ergeben: Anderen geht das auch so. Sie belauschen Fremde, die mit Fremden sprechen, und wollen das auch. Es scheint da also einen besonderen Zauber zu geben, in diesen Begegnungen und Gesprächen. Der liegt bestimmt darin, dass die Menschen, die da reden, sich ja nicht kennen. Dass eine beliebige Situation sie zueinander geführt hat, sie sich angesehen und sich für sympathisch oder interessant befunden haben, und einer mutig genug war, was zu sagen – etwas Offenes, Herzliches, Interessiertes – und den anderen damit eingefangen und mitgenommen hat. Sie fangen immer ganz vorsichtig an, diese Gespräche. Wie eine kleine Lok, die loszuckelt ("Haben Sie in den USA studiert?"), dann nimmt der Gesprächs-Zug langsam Fahrt auf ("Kennen Sie die Stadt? Ich war da mal, um..."), irgendwann hupt sie ganz laut und glücklich ("Ja, da haben Sie völlig Recht!"), und schließlich rollt sie in einen Bahnhof ein, alle steigen aus und Ende ("Alles Gute Ihnen!").
Das ist auch ein Teil des Zaubers: dass die Fahrt immer ein Ende hat. Man verpflichtet sich zu nichts. Allen Beteiligten ist klar, dass man gemeinsam ein bisschen Zeit rumbringt. Auf die gute Art, ohne Machtgefälle, ohne Streit. Und danach gehen alle auseinander, ohne Handynummern auszutauschen. Sie hatten eine gute Zeit, sie haben etwas Neues gelernt oder etwas Interessantes erfahren, sie haben von sich erzählt, und jemand völlig Neutrales hat es angehört und darauf reagiert. Sie konnten kurz mal ohne jede Vorbelastung in die Welt hineinwirken.
All diese Menschen liebe ich, kurz und bedingungslos, weil sie so nett zueinander sind
Bleibt die Frage, warum man nicht einfach selbst solche Gespräche führt. Könnte man ja dauernd. Aber was sich bei anderen so leicht anhört, fühlt sich gar nicht so leicht an. Der übliche Blödsinn steht einem im Weg: Feigheit, Unsicherheit, Schüchternheit und diese diffuse Eigenschaft, die von vielen gerne "typisch deutsch" genannt wird. Man ist ein eingeigelter Igel. Darum spricht man niemanden an – und wird selbst auch nicht angesprochen. Der Neid ist also nicht nur ein Neid auf das Gespräch an sich, sondern auch ein Neid auf alle beteiligten Charaktere, auf ihre Offenheit und ihre Fähigkeit, immer genau die richtigen Fragen zu stellen. Zum Glück mischt sich dieser Neid, bei mir zumindest, immer mit dem sehr guten Gefühl, alle diese Menschen, die da miteinander reden, kurz und bedingungslos zu lieben. Einfach, weil sie so nett zueinander sind, einander zugewandt, aufmerksam, ohne Dünkel. "Ich bin ganz verliebt!", schrieb ich darum auch dem Freund, als ich im ICE saß.
Der Freund (Mutmacher) schrieb dann noch: "Die freuen sich doch, wenn du was sagst!" Ich (Feigline) schrieb: "Bin aber trotzdem zu schüchtern." Und ich zweifelte daran, dass sie sich wirklich freuen würden. Denn die meisten Menschen fänden es sicher seltsam, wenn da auf einmal jemand neben ihnen steht und sagt: "Darf ich mich zu Ihnen setzen? Ich finde Ihr Gespräch so interessant!" Damit würde man doch diese schöne Situation, in der fremde Menschen zufällig aneinandergeraten sind und sich auf Augenhöhe unterhalten, kaputtmachen. Das Gespräch, das da ganz aus Versehen entstanden ist, einfach an sich reißen. Während der Fahrt auf die Lok aufspringen und alle können riechen, dass man vorher schon zwanzig Minuten nebenher gerannt ist. Dann vielleicht doch lieber mutig genug sein und selbst ein Gespräch anfangen.
Oder hoffen, dass einem demnächst mal die netteste kluge, alte Dame der Welt im Zug gegenübersitzt und man so wenig igelig ist, dass sie einen auf den Pulli anspricht, den man trägt.