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Warum ich mir nachts betrunken die Haare schneide

Foto: secretgarden / photocase.com / Illustration: Federico Delfrati

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Das warme Kribbeln in der Brust ist eine Mischung aus jugendlicher Freiheit, Leichtsinn und der bittersüßen Vorahnung, gerade einen Fehler zu machen. Im Hintergrund spielt melancholische Musik von wahrscheinlich Feist oder The National und auf dem Tisch steht eine halbleere Flasche Rotwein. Von außen betrachtet könnte man die Szenerie durchaus als romantischen Abend interpretieren. Nur, dass ich nicht wie am Abend zuvor den hübschen Kommilitonen aus dem Politikseminar küsse. Sondern ich stehe mit einem wohlbekannten Klopfen im Hals im trüben Licht der Badezimmerlampe und lasse mich von einer unvernünftigeren Version meiner selbst küssen. Mit Zunge. Als wir fertig sind, betrachtete ich mich verwegen lächelnd im Spiegel und sehe auf meine Stirn. Mir hängen in unterschiedlichen Längen stumpfe, dunkelblonde Fransen ins Gesicht. Ich lasse die Bastelschere sinken und puste mir Härchen von der Nase. Es ist ein Mitternachtspony. So nenne ich diesen Haarschnitt. Denn vor 0 Uhr sind wir beide zu schüchtern, um uns zu begegnen, mein anderes Ich und ich.

Der Zauber hält noch die ganze Nacht. Am nächsten Morgen wache ich auf und bin wieder allein und viel zu erwachsen für mein Alter. Wo ich mich noch vor wenigen Stunden im schmeichelhaften Halbdunkel verführerisch und aufregend gefunden hatte, sieht mir nun die nüchterne Wahrheit ins Gesicht: eine müde, junge Frau mit Scheißfrisur. Ich bereute meinen Leichtsinn – nicht aber meinen Mut dazu. 

Es ist nicht das erste Mal, dass ich diese Irrfahrt durchlebe. Ich war sechs Jahre alt, als ich der Magie der Bastelschere erlag. “Sie hat sich selbst einen Pony geschnitten”, sagte meine Mutter damals erklärend zur Friseurin und deutete hilflos auf meine Stirn, wo mir in unterschiedlichen Längen stumpfe, dunkelblonde Fransen ins Gesicht hingen. Am Tag zuvor hatte ich mir in einem unbeobachteten Moment mit der stumpfen Schere aus der Bastelkiste die Haare gekürzt – zwar nicht um Mitternacht, aber doch deutlich nach Sonnenuntergang. Mir war ziemlich egal, ob ich mit dem schiefen Pony “unmöglich” aussehe. Im Gegenteil, ich fand, man könnte das durchaus so lassen. Krumme Fransen hin oder her, das Schneiden hatte großen Spaß gemacht. Es war ein selbstbestimmter Akt der Rebellion und auch ein großer Teil kindlicher Neugier gewesen, der nun unter den Händen der beißend nach Haarspray riechenden Friseurin sein jähes und akkurates Ende fand. 

Vielleicht ist der Mitternachtspony der letzte Rest jugendlicher Dummheit, an dem ich mich festhalte

Der selbst geschnittene Pony nie falsch. Im Gegenteil: Er ist nur deswegen so richtig, weil er falsch ist. Ein bisschen wie unpraktische, aber teure Schuhe oder der eine Drink, den man noch nimmt, obwohl man schon längst gehen wollte.  

Daran sieht man auch: Wie so oft geht es bei Haaren nicht nur um Haare. Der Mitternachtspony ist die Kleinstform des Widerstands unter den Frisuren – gegen die Vernunft und gegen die eigene Langweiligkeit. Der nächtliche Griff zur Schere ist das kurze Aufblitzen eines anderen Ichs, das sich erst nach Einbruch der Dunkelheit an die Oberfläche traut – ein Ich, das über “Welche Frisur steht mir wirklich”-Tests im Internet lacht und mit blauer Zunge nochmal Rotwein nachschenkt. Ein Mitternachtspony ist manchmal die letzte Abfahrt Richtung Abenteuerland, wenn geradeaus nur die nächste Heizkostennachzahlung und ein Teambuilding-Betriebsauflug in den Hochseilgarten wartet. Denn wer weiß, vielleicht fehlen nur ein paar Millimeter zur Femme Fatale, zur Frontfrau einer Folkband oder zum Riot Grrrl mit Schwalbentattoo und Nasenring?

Mittlerweile habe ich viele Frauen mit einem Mitternachtspony kennengelernt. Antje schneidet sich rituell nach jeder gescheiterten Beziehung einen, also etwa sechs Mal im Jahr. Mara nutzt ihn in der Festivalsaison als Katalysator für ihr Alter Ego mit Schlamm zwischen den Zehen und Glitzer in den Augenwinkeln. Nike kehrt aus jedem Portugal-Urlaub mit einem zurück und bei Helena erkennt man an ihm, dass sie gerade ein bisschen zu oft allein ist. Wir alle nutzen den Mitternachtspony als Ventil in Zeiten, in denen mit uns gerade sehr viel oder vielleicht auch viel zu wenig passiert. Meine Freundin Anja hingegen lacht nur jedes Mal wissend, wenn sie mich wieder mit mühevoll drapiertem Haarband sieht – sie weiß, was passiert ist. Ich glaube nicht, dass jede Frau irgendwann in ihrem Leben selbst zur Schere greifen wird oder gar muss – aber wenn sie es tut, ist es meistens der richtigste Fehler, den sie in diesem Moment machen kann. 

Der Mitternachtspony fühlt sich rebellisch an. Zumindest ein bisschen. Wirklich radikal ist er natürlich nicht. Es sind nur ein paar Zentimeter Haar, die da im Waschbecken landen, nicht das ganze bisherige Leben. Aber, und darin liegt seine unwiderstehliche Anziehungskraft: Es fühlt sich kurz so an. Und deswegen setze ich immer wieder wider besseren Wissens die Schere an. Einmal habe ich mir vorher ein Tutorial auf YouTube angesehen, habe Haarsträhnen abgetrennt und festgeklemmt, mit einem feuchten Kamm einen klaren Scheitel gezogen – und am Ende war die Schnittkante genauso ungerade wie jedes Mal. Ich war fast ein bisschen erleichtert. Dann habe ich mich wieder geärgert, wie jedes Mal.

 

Und trotzdem: ich muss mich manchmal auf diese Weise daran erinnern, dass es mich zumindest theoretisch auch mit Nasenring, Akustik-Gitarre oder französischem Akzent gibt und mir in regelmäßigen Abständen beweisen, dass ich noch genauso neugierig und gedankenlos sein kann wie damals mit sechs. Vielleicht ist es auch nur der traurige Rest jugendlicher Dummheit, an dem ich mich festhalte, eine Art umgekehrte Altersversicherung. Meine Mutter hatte jedenfalls Recht – es sieht unmöglich aus. Das kann ich mittlerweile selbst gerne zugeben. Aber das gehört so.

 

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