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Leere Städte während der Fußball-WM
Ich mag die WM. Fußball ist mir egal. Das sind zwei Sätze, die sich scheinbar widersprechen. Aber auch für jemanden, der keine großen Fußballturniere schaut, kann ein großes Fußballturnier wunderschön sein.
Ich weiß das seit 2010. Damals war auch Fußball-WM, und der 10. Juli, als Deutschland gegen Uruguay um Platz 3 spielte, war ein sehr warmer Samstag, der in einen sehr warmen Abend überging. Ich wohnte damals noch in einer kleinen, feinen Studentenstadt und lief dort durch die Straßen, anstatt mir das Spiel anzuschauen, das mich sowieso nicht interessierte. Und dieser Spaziergang war erstaunlich schön, viel schöner als jeder Sommerspaziergang ohne Fußball-WM.
Die Straßen waren ganz leer, kaum Autos, nur vereinzelte Radfahrer und Fußgänger. Auf sämtlichen Grünflächen, die sonst an einem solchen Abend voll besetzt waren, saßen nur wenige Menschen, die aber extrem zufrieden aussahen. Sie strahlten alle ein „Ich habe die richtige Entscheidung getroffen“-Selbstbewusstsein aus und ich fühlte mich ihnen sehr verbunden. Und obwohl alles so leer war, war die Stadt nicht trist und ausgestorben. Sie war trotzdem voll, aber die Menschen versammelten sich punktuell, sie drängten sich irgendwo in Gruppen dicht zusammen und zwischen den einzelnen Gruppen war dieser viele Raum, durch den ich spazierte.
Vor allem bei Deutschlandspielen: leere Straßen. Auch in München.
"Liebe besteht nicht darin, dass man einander anschaut, sondern dass man gemeinsam in dieselbe Richtung blickt." Das wusste schon Antoine de Saint-Exupéry.
Jetzt Schlangenlinien laufen. Einfach, weil's geht.
An warmen Abenden sonst voll: der Englische Garten.
Und die wenigen Menschen hier eint die Überzeugung, genau die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Wozu eigentlich die Ampeln?
Wenn irgendwo anders Männer auf einem Rasen einem Ball hinterherlaufen, bekommt man an einer von Münchens beliebtesten Eisdielen viel schneller sein Eis als sonst.
Nirgends Menschen und dann Trauben von Menschen. Dort, wo die Fernseher sind.
Und aus den Fenstern hallt der Pfiff des Schiedsrichters.
Immer wieder kam ich an Kneipen, Cafés und Restaurants vorbei, in denen ein Fernseher lief, auf den die Gäste gespannt schauten. Oft standen auch andere, die offensichtlich keine Gäste waren, davor, um einen Blick auf den Spielstand zu werfen. Aus diesen Kneipen, Cafés und Restaurants, aber auch aus Hinterhöfen und offenen Fenstern, hörte man die typischen Fußball-Fernsehgeräusche, dieses dumpfe Mini-Getöse, die entfernten Fangesänge, das Schrillen der Schiedsrichterpfeife, die tiefen Frequenzen in der Stimme des Kommentators, ohne verstehen zu können, was er eigentlich sagte.
Am schönsten war es, als die Tore fielen. Es waren insgesamt fünf in diesem Spiel, zwei für Uruguay, drei für Deutschland. Und egal, wo ich gerade war, auch, wenn keine Kneipe mit Fernseher in der Nähe war, hörte ich, wenn ein Tor fiel. Bei einem Gegentor ging ein Raunen durch die Stadt, aus dem vereinzelte spitze Verzweiflungsrufe und das ein oder andere genervte Aufstöhnen herausstachen.
Als Euphorie-Parasit findet man es schön, wenn andere etwas schön finden
Bei einem Tor der deutschen Nationalmannschaft stieg dann dieser Jubel über den Dächern auf. Aber nicht ganz plötzlich, meistens rollte er vorher schon ein bisschen an, weil die Menschen sich anspannten und aufsetzten, unruhig wurden, irgendwen anfeuerten, bis dann die Freude und Erleichterung aus ihnen herausplatzen durften. Das waren jedes Mal sehr schöne Sekunden, dieses Jubeln aus der Ferne zu hören. Es war Euphorie in der Stadt, gute Laune, eine positive Stimmung, die ich spüren konnte, ohne zwischen schwitzigen Menschen vor einem Fernseher sitzen zu müssen. Ich war ein Euphorie-Parasit, aber das war völlig okay. Und drumherum zwitscherten die Vögel und der Asphalt war noch warm. Alles war gut.
In diesem Jahr habe ich mich wie in jedem Jahr auf den Sommer gefreut – und auch darauf, dass in diesem Sommer WM ist, obwohl mir das Turnier ingesamt egal ist. Das mag paradox klingen, aber so ist das eben als Euphorie-Parasit: Man findet es schön, wenn andere etwas schön finden. Im Falle von Fußball ist es allerdings besonders wichtig, dabei nicht in der Nähe der Euphoriker zu sein, sondern die Stimmung aufzusaugen, die sie so großflächig verteilen. Da wo die Euphorie ausbricht, ist sie zu laut, zu bierselig, viel zu anstrengend, sie überrollt einen – aber weiter weg ist sie eine Welle, die sanft ans Ufer plätschert und in der man sich dann die Füße kühlen kann.
Deutschland schied aus und ich war traurig – beim Finale wär's noch schöner gewesen in der Stadt
Beim letzten großen Fußballturnier, der Europameisterschaft, als Deutschland gegen Frankreich spielte, ging ich ins Schwimmbad, teilte mir das Becken mit drei anderen Personen, von denen eine ab und zu den Bademeister fragte, wie es denn gerade stünde, und zog in aller Ruhe meine Bahnen. Dann spazierte ich nach Hause. Auf der Terrasse des Cafés vor dem Schwimmbad hatten alle ihre Tische auf den Fernseher ausgerichtet. In einer Wohnung im Erdgeschoss saßen Menschen am offenen Fenster auf der Fensterbank und schauten das Spiel. Aus dem Biergarten, in dem es gezeigt wurde, hörte ich Rufe und Johlen. Aus vielen gekippten und geöffneten Fenstern hallte die Stimme des Kommentators und aus vielen Räumen schimmerte es grün auf die Straße hinaus. Kurz nachdem ich zu Hause angekommen war, stand fest, dass Deutschland ausgeschieden war, und ich war traurig. Denn beim Finale mit deutscher Beteiligung wäre es sicher noch schöner gewesen, in der Stadt.
Wenn während dieser WM ein Deutschlandspiel läuft, sollte also jeder, der es nicht sehen will, rausgehen. Durch sein eigene Viertel oder das Nachbarviertel spazieren, durch den Park, am Fluss entlang. Vielleicht auch mal mit dem Bus oder der Tram fahren. Genießen, wie leer es überall ist, aber auch, wie einig sich gerade viele Menschen sind. Die, die Fußball schauen, fiebern gemeinsam. Die, die es nicht schauen, werfen sich auf der Straße wissende Blicke zu und schmunzeln. Genießen die Ruhe und die vor Spannung der Fußballfans flirrende Luft. Und kaufen sich ein Eis, ohne anstehen zu müssen.