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Warum bin ich so abgestumpft?

Illustration: Daniela Rudolf

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Nun ist also seit vergangenem Donnerstag offiziell bekannt, dass der Preisdruck im Fernbusgeschäft auf dem Rücken der Fahrer ausgetragen wird. Meine steile These dazu lautet: Es wird exakt null Menschen geben, die nach dieser Nachricht nicht mehr im Internet nach dem billigsten Fernbus suchen, sondern stattdessen eine fairere Fortbewegungsmethode wählen. Ich schließe da durchaus von mir auf andere. 

Es ist tragisch, aber was mich in den Nachrichten heute neben den unaufhörlichen und traurigen Meldungen über die Flüchtlingskrise am allerwenigsten überrascht, sind Nachrichten, die aufdecken, dass hinter den Kulissen all der herrlich komfortablen, günstigen, schnellen Dienstleistungsmöglichkeiten unserer Zeit Menschen chronisch unterbezahlt und ausgebeutet werden. Es überrascht mich nicht nur nicht – es wühlt mich noch nicht mal mehr auf. Ich werde nicht wütend, traurig oder verzweifelt. Ich bin einfach: gleichgültig.

Vielleicht bin ich ja schon abgestumpft auf die Welt gekommen?

Warum bin ich so abgestumpft? Womit fing das an? Vielleicht bin ich ja schon abgestumpft auf die Welt gekommen. Immerhin gab es 1988 bereits Aldi. Meine Eltern haben immer bei Aldi eingekauft. Alle Eltern, die ich kenne, haben bei Aldi gekauft. Die, die materiell gesehen nichts hatten, ganz genau wie die, bei denen zwei Benz-Neuwagen und ein BMW-Cabrio in der vollautomatischen Garage des Eigenheims standen. Grünwähler wie Rotwähler wie Schwarzwähler. Klamotten gab es von H&M und Zara, Möbel bei Ikea, Matratzen aus dem Dänischen Bettenlager und so weiter. Ganz normal. Wie aber zum Beispiel Firmen wie Aldi oder Ikea mit ihren Mitarbeitern umgehen und dass das zum Teil Zustände sind, die man eigentlich aus tiefstem Herzen nicht unterstützen will, war damals schon geschenkt. Und ist es, wenn wir ehrlich sind, auch heute noch. Der Erfolg dieser Firmen spricht da eine sehr eindeutige Sprache.

Was – so fühlt sich das zumindest an – soll ich mich also noch groß aufregen? Es wäre doch vor allem scheinheilig. Ich kaufe zwar im Gegensatz zu vielen Freunden und Eltern tatsächlich nicht mehr bei Lebensmitteldiscountern. Ich kaufe keine Flugmangos aus Thailand. Ich kaufe mittlerweile auch lieber ein teures, handgenähtes italienisches Designerhemd, als fünfzehn kindergenähte aus Bangladesh. Ich meide H&M so gut es geht, versuche, nicht öfter als einmal im Jahr zu Zara oder COS zu gehen, ich gehe nur noch in Ausnahmefällen zu IKEA, aber da fängt es ja schon wieder an mit der Scheinheiligkeit: all diese kleinen „Ich versuche…“ oder „So gut es geht“-Relativierungen, die ich in diese Sätze hineinmogle. Außerdem: Wer garantiert mir, dass bei Edeka, Feinkost Spina oder beim Basic-Biomarkt alles mit rechten Dingen zugeht? Dass ja zum Beispiel sogar Alnatura oder die Biomarktkette denn’s  schlecht mit ihren Mitarbeitern umgehen, ist doch auch schon enthüllt worden. 

Es ist kein Geheimnis mehr, dass nur, weil Handmade in Italy drinsteht, das Hemd nicht trotzdem in Albanien oder China genäht wurde

Dasselbe gilt für meine Klamotten: In Wahrheit weiß ich natürlich nicht, ob mein italienisches Designerhemd nicht nur qualitativ, sondern auch ethisch einwandfreier ist als das von H&M. Es ist kein Geheimnis mehr, dass nur, weil Handmade in Italy drin- und ein arschteurer Preis draufsteht, das Hemd nicht trotzdem über sieben Ecken doch in Albanien oder China genäht wurde. Und selbst wenn es in Italien geschähe – es hieße noch lange nicht, dass die Näherin nicht eine geknechtete und beschissen bezahlte Kalabresin ist. Oder dass die Stoffe und Farben nicht aus Bangladesch kommen und mein schönes, vermeintlich so gewissenreines italienisches Designerhemd am Ende doch eine schwarze Seele besitzt.

Aber es sind nicht nur Lebensmittel, Möbel, Klamotten. Es ist die Möglichkeit des Onlinebestellens, es sind Paketdienste, es ist Streaming, es sind die neuen Essenslieferdienste. Es ist Uber.

Das Böse lauert überall

Was soll ich tun? Wie geht so ein Leben, in dem man normal am gesellschaftlichen Leben unserer Zeit teilnimmt, und dabei ein einigermaßen reines Gewissen hat? Ich weiß es nicht. Es gibt zwar vegane Modelabels, es gibt Sklavenrechner, es gibt Apps, die mir „faire“ Produkte empfehlen. Aber ich habe längst aufgehört, solche Dinge zu recherchieren. Nicht zuletzt, weil ich für die Nutzung von Apps, die mir zum fairen Leben verhelfen wollen, auf mein unfaires iPhone angewiesen bin und ich mir meine Möchtegernfairheit dann auch wieder nicht mehr abnehme. Das Böse lauert überall.

Es ist ermüdend. Aber ich darf eigentlich nicht klagen, denn ich bin daran schuld. Allerdings ohne mich wirklich schuldig zu fühlen. Das ist das Problem. Mein Leben basiert in so vieler Hinsicht auf der Ausbeutung anderer Menschen, aber ich spüre ihre Not nicht. Sie hat mich nie direkt betroffen. Und die Not der Kinder aus den Kobaltminen des Kongo wird mich wohl auch weiterhin nicht direkt betreffen. Ich habe mich daran gewöhnt. Manchmal dämmert mir, wie schlimm das eigentlich ist, aber dann frage ich mich: Wo soll ich denn bitteschön anfangen aufzuräumen?

Deshalb einfach nicht mehr darüber nachzudenken, funktioniert erstaunlich gut. Wie lange wohl noch? Ich werde vermutlich selbst nie in einer Kobaltmine landen, aber es ist durchaus möglich, dass ich mich bei Foodora als unterbezahlte Essensausfahrerin bewerben muss, wenn mein Gehalt als freie Autorin irgendwann nicht mehr reicht. Vielleicht würde ich dann umdenken. Das jedenfalls scheint mir ein entscheidender Punkt zu sein: Man beginnt erst umzudenken, wenn es einem selbst an den Kragen geht. Allerdings bin ich mir auch da nicht hundertprozentig sicher. Jetzt müsste man mal einen Paketboten fragen, ob er privat aufgehört hat, im Internet zu bestellen. Ich kann es mir kaum vorstellen

Ich gefalle mir nicht in meiner Passivität. Ich weiß, dass sie falsch ist und feige und faul. Einer muss anfangen. Einer muss aufhören mitzumachen, weil sonst macht es keiner und wenn es hundert „einers“ gibt, gibt es irgendwann vielleicht auch Millionen „einers“ und dann sind es viele.

 

Der Praxis-Check sagt: Meine Mini-Revolten werden all diese Entwicklungen nicht aufhalten

 

Schöne Theorie. Und ich glaub doch nicht dran. Der Praxis-Check sagt: Meine Mini-Revolten werden all diese Entwicklungen nicht aufhalten. Weil ich mit ihnen immer in der Minderheit bleiben werde. Wenn ich sag, dass ich nicht bei Facebook bin, oder dass ich bei Spotify nicht mitmachen will, belächelt man mich von allen Seiten. Große Musikredakteure benutzen flächendeckend Spotify. Musiker selbst benutzen Spotify. Vom großen Facebook-Diktat gar nicht erst zu reden. Mir macht es Angst, dass sich sogar die kritischsten, um Unabhängigkeit bemühtesten Zeitungen in ihrer täglichen Arbeit dem privatwirtschaftlichen Interesse eines Quasi-Monopolisten wie Facebook unterwerfen, um mehr Reichweite zu erzielen. Aber was schimpfe ich hier? Dieser Text wird über Facebook geteilt, zum Glück, irgendwo muss die Reichweite ja herkommen. Sonst bekäme ich als Autorin wohl irgendwann ein Problem und mein Foodora-Engagement müsste noch früher beginnen, als je erwartet. Außerdem besitze ich einen Instagram-Account und dokumentiere mein gesamtes Sozialleben mehr oder weniger freiwillig über WhatsApp, weil es nämlich einfach nicht funktioniert, alle, die ich kenne, zum Threema-Umzug zu überreden. Und nicht zuletzt verstehe ich nicht gut genug, wie genau diese ganzen neuen Machtsysteme namens Google, Facebook etc. miteinander zusammenhängen, um ernsthaft darüber diskutieren zu können.

 

Zu all dem kommt der fatalistische Gedanke: Ich bin doch voraussichtlich nur einmal auf der Welt, ich hab nur dieses Leben, in dieser meinen Zeit. Warum soll ich auf alle komfortablen Möglichkeiten dieser Zeit verzichten? Ausgerechnet ich? Die Welt ist modern und die Moderne glänzt und ist schnell und rasend und kann irre Spaß machen und warum sollte ich mich davon ausschließen? Bin ich dann nicht genauso schlimm wie all jene Verstrahlten und Rückständigen extrem linker oder extrem rechter Lager, deren einziger Lebensinhalt es ist, unaufhörlich rumzuschimpfen über die Zustände unserer Zeit? Und landen zu angestrengte Idealisten nicht sowieso am Ende handlungsunfähig und dauerbekifft auf La Gomera? Ich bin endlos verwirrt.

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