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Jede Lebensphase hat ihren eigenen Kalender
„Wenn du jetzt noch keinen hast, kannst du es eigentlich auch gleich sein lassen mit 2019“, sagt der gut organisierte Teil in meinem Inneren vorwurfsvoll zum vorherrschenden, weniger gut organisierten Teil in mir, als ich durch das warme Gebläse ins Innere der Buchhandlung gehe. Es ist Anfang Januar und ich bin – etwas zu spät, aber auf Rabatte hoffend – auf der Suche nach einem Wandkalender. Die Rolltreppe nach oben in den zweiten Stock und dann hinten rechts, sagt die Verkäuferin. Dort stehen riesige Metallgestelle, die höher reichen, als ich greifen kann und an denen unzählige Kalender hängen. Alles, was man potenziell auf einen Kalender drucken kann, ist hier auf einen Kalender gedruckt. Ich blick mich um. Ungefähr auf Augenhöhe hängt ein „Familienplaner“. Der Anblick löst etwas aus in mir: Als hätte mich jemand aus dieser Buchhandlung hinausgerissen und zurück in vergangene Zeiten katapultiert, läuft vor meinem inneren Auge mein Leben in Kalenderphasen ab. Mir wird klar: Jeder Abschnitt des Erwachsenwerdens bringt eine eigene Art von Kalender mit sich.
Ich bin also wieder fünf und stehe in der Küche meiner Freundin Hanna und starre verstohlen auf den Familienplaner ihrer Familie. Hier, norddeutsche Provinz, wird der Familienbetrieb anhand eines Planers wie ein mittelständisches Unternehmen geführt. Hanna und ihr Bruder Henrik habe ihre eigenen Spalte, da steht dann „Lisas Geburtstag“ oder „Kieferorthopäde 16:30“. Das Tolle: Sie werden als eigenständige Personen mit eigenen Terminen wahrgenommen. Darauf bin ich sehr neidisch, denn bei uns zu Hause gibt es nur einen großen Wandkalender über dem Heizkörper in der Küche, in den ausschließlich die wichtigsten Termine eingetragen werden – ohne Raum für Individualität oder meine Verabredungen zum Spielen.
Das Einzige, was ich mir damals noch mehr wünschte als eine Spalte in einem Familienplaner, war ein Hund. Ich bekam einen Hundekalender. Er bestand aus einem großen Bild oben und den Wochentagen unten. Ich hatte mit meinen fünf Jahren natürlich keine Termine, die ich eintragen konnte, geschweige denn die Sorgfalt oder Muße, dies zu tun, aber ich sah mir den Kalender wahnsinnig gerne an. Ich blätterte die Monate vor und zurück, erstellte in meinem Kopf ein Ranking, welcher Hund der schönste war, und versuchte mir die Namen der Rassen zu merken, um mich anhand meines außerordentlichen Hundewissens bei meinen Eltern als würdige Hundebesitzerin zu qualifizieren.
Irgendwann wurden aus den Hundekalendern Männerkalender mit spärlich bekleideten, gut trainierten Hotties. Rückblickend würde ich das als emanzipatorischen Akt verklären: Wenn sich meine schwerstpubertären männlichen Freunde ihre als Jugendzimmer getarnten, stinkenden Höhlen mit Pin-up-Girls vollplakatieren konnten, dann konnte ich auch halbnackte Männer an der Wand haben!
Nach drei oder vier Jahren begriff ich, dass Männerkalender vom Konzept her genauso bescheuert sind wie Frauenkalender und wirklich niemandem helfen – Stichwort falsches Körperbild.
Mit meinem eigenen Kalenderplan fühle ich mich richtig selbständig
Darauf folgten einige Jahre mit den Give-away-Kalendern der Unibibliothek oder verschiedener Institute, auf deren Rändern sich die Logos von Sponsoren drängten. Auch als Studentin, in einer Zeit also, in der man das erste Mal sein Leben selbst organisieren darf und eigentlich alles anders (und besser) machen möchte als zu Hause, konnte ich nicht leugnen, dass ein Wandkalender und sein organisatorischer Weitblick wirklich praktisch sind. Deswegen redete ich mir ein, dass nur Wandkalender, die nichts kosteten, von der Spießigkeitsskala ausgenommen waren. Die Kalender, die eigentlich nur DIN-A4-Blätter aus etwas dickerer Pappe waren und nach einem halben Jahr umgedreht werden mussten, hatten nur eine sehr schmale Spalte für jeden Tag. Sie zwangen mich dazu, mich auf das Wesentliche zu begrenzen: Klausuren, Abgabetermine, Geburtstage. Ich fühlte mich sehr erwachsen und verantwortungsvoll. Für mich sagten diese Kalender: „Natürlich bin ich organisiert und habe einen Plan davon, was ich hier tue, aber hauptsächlich bin ich lässige Studentin!“
Spießigkeit ist für mich heute eher ein Gütesiegel. Die Wandkalender der letzten Jahre habe ich penibel auf mein Wohnraumkonzept abgestimmt: sehr schlicht und mit viel Platz, um etwas einzutragen – womit ich aber ganz offensichtlich nicht im Trend liege. Die meisten Wandkalender sind mittlerweile eher große Poster mit sehnsuchtsträchtigen Landschaften oder ironischen Sprüchen drauf, die nichts mehr darüber verraten, was eigentlich aktuell im Leben des Kalenderbesitzers wichtig ist. Im Gegenteil, die an den untersten Rand gedrängten Zahlen werden mit stiller Gleichgültigkeit abgeschritten. Es herrscht eine reine Co-Existenz von Kalenderbesitzer und Kalender. Das Wichtigste hat man eh alles digital.
Mit dem Kalender sagten mir meine Eltern, ohne es auszusprechen: Hier wird an dich gedacht
Alles digital hat jetzt auch meine Mutter. Am Telefon sagt sie, sie wolle dieses Jahr keinen Wandkalender, sie habe das ja alles in ihrem Smartphone, das sei superpraktisch – auch mit diesen Erinnerungen. Irgendetwas in mir wird schwermütig. Denn der Kalender bei meinen Eltern enthielt immer die Landmarken meines Erwachsenwerdens: Einschulung, Klassenfahrten, Abschlussbälle. Auch als ich schon gar nicht mehr zu Hause wohnte, standen immer noch meine Termine dort, Uni-Abschlussprüfung, Praktikum in München, solche Dinge. Damit sagten mir meine Eltern, ohne es auszusprechen: Hier wird an dich gedacht.
Für mich ist deshalb klar: Früher oder später werde ich mir vermutlich meinen Kalender mit einem anderen Menschen und vielleicht auch mit mehreren kleinen Menschen teilen. Das ist noch nicht ganz sicher und das hat auch noch etwas Zeit, aber es wird mit Sicherheit ein Familienplaner – vielleicht sogar mit einer eigenen Spalte für den Hund.