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Instagram ist das bessere Tinder
Ich so neulich: Instagram auf, oh, eine neue Anfrage: Hey, hab deine Fotos gesehen, wohnst du in München? Ich schaute mir ihr Profil durch. Die Fotos waren super, überall auf der Welt aufgenommen und stilsicher mit einer selbstironischen Unterschrift versehen. Ich antwortete sofort. Und merkte plötzlich, dass sich mein Insta-Postfach in letzter Zeit heimlich verwandelt hatte: von einer leeren Fußgängerzone in eine Bar. Mit lustigen Gästen drin. Und da wird natürlich auch geflirtet. Und zwar so angenehm, beiläufig, entspannt, dass ich mich fragte: Ist Instagram etwa das bessere Tinder?
Tinder bedeutet: Erwartungen. Hoffnungen. Und Angst vor Ablehnung.
Tinder ist in den vergangenen zwei, drei Jahren zu einem Running Gag verkommen. Namensgeber für kulturpessimistische Weltuntergangsszenarien, Gegenstand von ganzen Beziehungsratgebern und Comedy-Programmen. Spukgespenst eines unheimlichen Zeitalters zwischen oversexed und underfucked.
Tinder fanden wir anfangs genial, weil es uns vom peinlichen Moment des Ansprechens erlöste. Dafür erzeugt es einen anderen Druck: den des ersten guten Satzes, des Abtastens und Angebens, nachdem man jemanden angesprochen hat. Damit man nicht im Single-Supermarkt liegen bleibt wie eine matschige Tomate im Aldi.
Wer sich auf Tinder anmeldet, gibt vor sich selbst und der Welt zu: Ja, ich hätte gerne jemanden. Wofür auch immer. Deshalb leidet dort fast jede noch so unverfängliche Interaktion an Erwartungen. Hoffnungen. Und der Angst vor Ablehnung. Zusammengefasst: Fast niemand fühlt sich richtig gut damit, „auf Tinder“ zu sein. Keiner meiner Freunde, schon gar nicht Freundinnen, macht das Spaß. Instagram hingegen, sagten sie mir, laufe so nebenher. Und sei genau deshalb vielleicht „ergiebiger“. Auf die Frage, wo jemand seinen neuen Freund oder derzeitigen Bettpartner kennengelernt hat, bekommt man in letzter Zeit immer häufiger die Antwort: „Auf Instagram angeschrieben.“
Denn Insta (wie es liebevoll abgekürzt wird) ist, bei aller Kritik an gekauften Influencern und Daten-Striptease, ein fröhliches, buntes, erwartungsfreies Netzwerk. Statt Partnersuche übt man hier stufenlos einstellbare Selbstdarstellung – man inszeniert sich als schön, schlau, speziell oder sogar einfach nur ehrlich. Daraus ergeben sich quasi zwangsläufig Kontakte ohne expliziten Zweck. Und ein Flirt macht eben genau dann Spaß, wenn er nichts bedeuten, nirgendwohin führen muss. Unter völlig Fremden, aber auch unter Kollegen, Bekannten und Freunden von Freunden. Ohne, wie auf Tinder, ein romantisch oder erotisch aufgeladenes „Match“ im Hintergrund – dargestellt ausgerechnet durch ein Herz. Ein gutes Dating-Portal ist paradoxerweise zuerst kein Dating-Portal. Weil eine Single-Party immer verkrampfter ist als ein ganz normaler Club-Abend.
Bei Instagram sieht man manchmal ein ganzes Leben
Die weiteren Vorteile von Instagram sind gleichzeitig offensichtlicher und tiefgreifender. Der größte Bonus: Man kann aktiv statt passiv suchen, nach einem Namen, einem Gesicht. Im Gegensatz zu Tinder, wo man auf den Zufall hoffen muss. Oder man flaniert durch (öffentliche) Insta-Profile, folgt den Likes und Kontakten von Freunden und Kollegen, mäandert durch das eigene erweiterte Netzwerk, immer durch eine kleine unsichtbare Schnur mit sich selbst verbunden. Wohingegen man auf Tinder von der Professorin bis zur Friseurin, vom Jungen um die Ecke bis zum TV-Moderator alles mögliche weitestgehend fremdbestimmt angeboten bekommt.
Hat man einen spannenden Menschen gefunden, bietet Instagram ungleich mehr Material als Tinder. Mehr Fotos an verschiedenen Orten aufgenommen, mehr Menschen, mehr besuchte Konzerte, mehr Wohnungen und Bücher und Posen und Kater-Gesichter und Haustiere und Hobbys und Hass. Bis, im Maximalfall, hin zu einer persönlichen Entwicklung über Jahre. Das alles natürlich auf eine gewisse, meistens vorteilhaft Weise dargestellt. Wo auf Tinder höchstens sechs Abziehbilder, ein Lieblingslied plus ein bisschen Beschreibung reichen sollen, um zu fesseln, sieht man bei Instagram manchmal ein ganzes Leben. Oder zumindest den vorzeigbarsten Ausschnitt davon. Inklusive möglicher Partner (#couplegoals), damit man Abstand nehmen kann. Andersrum kann man selbst genauer zeigen, was man gerne zeigen möchte, sich dabei aber locker machen. Es geht ja nicht primär darum, der großen Liebe zu gefallen.
Das Kennenlernen kann man auf Instagram in mundgerechte Schritte zerlegen. Erst jemandem still folgen, einen guten Moment abwarten, eine Inspiration, eine gute Tagesform. Oder man hält sich erstmal zurück, kann erst monatelang Bilder liken und damit dezent auf sich aufmerksam machen. Bis man sich einen Kommentar unter einem Bild traut. Und schließlich (oder sofort, wenn man Risiko will): die Direktnachricht.
Wir denken lieber über Gemeinsamkeiten als über Aufrisssprüche nach
Um die zu füttern, hat man mehr Themen. Das krampfige „Hey, wie gehts dir“, das jeder Tinder-User hasst, braucht man nicht. Mehr als genug Fotos und darauf dargestellte Reisen, Freunde, Partys helfen. Auf der anderen Seite kann man Safer Dating praktizieren: Anfragen ignorieren, blocken, melden. Im Grunde hat man ähnliche Schutzmauern wie bei Tinder. Aber durch die geringere Anonymität weniger Fakes und Spinner, die man wiederum leichter aussortieren kann.
Instagram schlägt Tinder also locker. Und das ist eine gute Nachricht, bei aller berechtigten Skepsis gegenüber Social Media und der virtuellen Anbahnung von Liebe. Es bedeutet, dass die meisten Menschen tatsächlich neugierig aufeinander sind, wenn sie nur einen Grund dazu haben. Dass wir die explizite Anbahnung nicht so gern mögen. Dass wir lieber über Gemeinsamkeiten als über Aufrisssprüche nachdenken. Dass die allermeisten von uns auch in angeblich so oberflächlichen Apps eine tiefere Verbindung suchen. Vielleicht sogar „einen Grund, diese App wieder zu löschen“, wie es in so vielen Tinder-Profilen heißt. Was dort übrigens der größte Pluspunkt ist? Ein verlinkter Instagram-Account.