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Die zweiten Chancen sind die besseren Chancen
Samstag Abend in der Bar. Neben mir meine Freundin R., vor uns auf der Theke zwei Shotgläser voll grüner Kater-Garantie. Und um uns Musik, die nüchtern zu peinlich, mit Pfeffi im Glas aber genau richtig ist. Während Uncle Kracker sein „Follow Me“ durch die dicht gedrängte Menge schmalzt, steht da auf einmal ein Typ. Genauer gesagt der Typ, den ich vor einem halben Jahr kennengelernt habe. Mit dem es aber nichts wurde, weil er ins Ausland abhauen wollte. Und ohne den sich ein tiefes Grau über die sonst so bunte Stadt gelegt hat.
Und nun, sechs Monate später, ist er wieder da. „Was mach' ich jetzt?“, flüstere ich R. zu, unfähig zu unterscheiden, ob der hämmernde Klang aus den Lautsprechern oder meinem Brustkorb kommt. „Ist doch klar“, meint sie und schubst mich in seine Richtung. „Das ist deine zweite Chance“, sagt sie. Und die zweiten Chancen, die sich plötzlich und unerwartet auftun – das sind doch die, die das Leben eigentlich prägen. Und deshalb unbedingt genutzt werden müssen. Oder?
Denn gleichzeitig ist ja wenig so schwer wie die Entscheidung, ob man eine zweite Chance ergreifen soll oder nicht. Wenn wir plötzlich mit einem tot geglaubten Traum aus der Vergangenheit konfrontiert werden, macht uns das schließlich nervös. Weil es uns daran erinnert, dass wir damals zu feige waren. Oder zu unerfahren. Oder zu ungeduldig, naiv, kurzsichtig oder einfach nur zu blöd.
Andererseits: Vielleicht war es auch gut so, dass bestimmte Zukunftsvisionen sich nicht erfüllt haben. Man ist dann froh, wenn aus der Casting-Show-Karriere doch nichts geworden ist, oder nichts mit dem megacoolen Typ aus der 8b lief, der sich mittlerweile in den Zwillingsbruder von Peter Griffin verwandelt hat.
War es beim ersten Versuch einfach noch zu früh? Oder hat der Traum sein Ablaufdatum schon überschritten?
Das eine vom anderen zu unterscheiden – schwierig. Handelt es sich um eine dieser Seifenblasen, die wir in ganz jungen Jahren eine nach der anderen in unserer persönlichen Vorratskammer verstaut haben? Sollte man als angehender Erwachsener also mal ausmisten? Oder hat der Traum seine Gültigkeit noch nicht verloren? War es also beim ersten Versuch einfach noch zu früh, ihn aus der Schutzhülle zu schälen und ihn mit der Wirklichkeit in Berührung kommen zu lassen?
Das kann das Paar meinen, das nach einer Trennung wieder zusammenkommt – Lea und Tobias bei mir. Das erste Mal dauerte es nur ein paar Monate mit den beiden. Er ging ihr fremd und sie war zu verletzt, um weitermachen zu können. Vier Jahre getrennt. Dann ein Treffen. Und die Erkenntnis, wie sehr sie sich eigentlich noch mögen. Und die noch größere Erkenntnis, dass der damals gesetzte Schlussstrich doch nicht mit einem Permanent-Marker gezogen wurde und jetzt irgendwie verblasst ist. Seit sieben Jahren sind sie jetzt wieder zusammen.
Oder es kann den 80-Jährigen meinen, von dem mir jemand auf der Mitfahrzentralenreise nach München erzählte – der Mitfahrer hatte ihn in einem Surfcamp kennengelernt: Der Alte hatte stets die Arbeit allem anderen vorgezogen, seine Frau wollte aber eigentlich mit ihm auf Reisen gehen. Als seine Frau dann krank wurde und starb, reagierte er verzweifelt, versuchte sich umzubringen. Aber er überlebte und nutzte seine zweite Chance, indem er all sein Zeug verkaufte, sich einen Van holte und damit loszog. Während der Zeit im Surfcamp war er bereits seit 15 Jahren unterwegs.
Entweder "Ja" oder "Nein". Aber man muss sich entscheiden.
"Ja" oder "Nein". Bei einer zweiten Chance müssen wir uns entscheiden. Ein "vielleicht" gilt nicht, führt zu nichts, gibt uns keine Gewissheit auf die Frage, ob sich ein erneuter Versuch lohnt. Deshalb vielleicht diese Regel:
Ich finde, die zweiten Chancen ungenutzt verstreichen zu lassen, ist immer ein Ausdruck von Angst und Resignation. Die Erfahrung des Scheiterns hält uns zurück, erneut von der Klippe zu springen, selbst wenn wir wissen, dass der Traum nach wie vor seine Gültigkeit hat. Aber wenn wir nicht noch einmal den Versuch wagen, ob wir über den Abgrund springen können oder nicht – wie sollen wir dann je herausfinden, ob es uns diesmal nicht doch gelingt? Wenn wir keine Risiken mehr eingehen und kämpfen – woher sollen wir dann wissen, ob wir überhaupt aus dem Spalt wieder hochgeklettert sind, in den wir durch den ersten gescheiterten Versuch gefallen sind? Vielleicht sitzen wir ja immer noch da unten, im Halbdunkeln, weil wir es vorziehen, sicher am Boden zu bleiben. Und unsere Augen haben sich so sehr an die eingeschränkten Lichtverhältnisse gewöhnt, dass wir vergessen haben, wie sehr die Welt eigentlich strahlen kann.
Nicht jede zweite Chance muss zum Erfolg führen. Natürlich nicht. Es gibt genug Negativbeispiele, die dies beweisen: Christoph Kolumbus ist es auch beim zweiten, dritten und vierten Anlauf nicht gelungen, an sein gewünschtes Ziel zu schippern. Leonardo DiCaprio wartet nach wie vor auf seinen Oscar. Und auch meine Geschichte mit dem Typ aus der Bar ist noch ungewiss. Nachdem ich von meiner Freundin in seine Richtung geschubst wurde und ihn ansprach, mussten er und ich feststellen, dass wir das halbe Jahr Trennung nicht einfach überspringen können. Das hätte das Ende der Unterhaltung sein können. Aber das Herzziehen, auch das haben wir gemerkt, ist auf beiden Seiten noch da. Und eine leise Hoffnung bleibt: Vielleicht gelingt es uns ja doch noch, eine Brücke über den Graben hinüber zu finden. Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich es probieren will. Denn die zweiten Chancen, das sind die, die das Leben wieder zum Leuchten bringen können.