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Meine dreihundert möglichen Leben

Foto: Rhodinho / photocase.com

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Ich habe diese wahnhaften Begeisterungsschübe. In diesem Sommer war es das Segeln. Ich machte einen Segelkurs und sah es glasklar vor mir: Nur noch ein paar Jahre, und ich würde zu meinem ersten Einhand-Törn um die Welt aufbrechen. Ich sah mir Dokumentationen und Reportagen über Einhand-Segler an. Ich ging in den Buchladen und verbrachte Stunden an einem Ort, von dem ich nicht wusste, dass es ihn überhaupt gibt: am Regal nur für Segelbücher. Ich las ein Buch aus der Reihe „Gebrauchsanweisungen für…“ zum Thema Segeln in einer Nacht durch. Ich las Bernhard Moitessiers Weltumsegelungs-Buch „Der verschenkte Sieg“ und ergötzte mich an der darin enthaltenen Anhäufung segeltechnischer Daten und Begriffe. 

Den ganzen Sommer verbrachte ich im Schwelgen und Fantasieren über mein zukünftiges Leben als große Seglerin. Ich knotete alles zusammen, was nach Leine aussah, lauschte genüsslich den Schallsignalen der Boote auf dem See, an dem ich den Sommer verbrachte und übersetzte sie ungefragt jedem, der in meiner Nähe war. Ich beobachtete den Wind und die Kurse, die die Segler zu ihm nahmen. Meinem mich zärtlich in dieser Manie belächelnden Freund schwärmte ich vor, er werde schon noch sehen, wie wir beide um die Welt brausen würden, über die Schaumkronen hinweg in Richtung anderer Kontinente. Dann kam der Tag, an dem ich die Segelprüfung erfolgreich bestanden hatte, der Sommer sich dem Ende zuneigte und ich das Segeln vergaß.

Es gibt viele dieser Geschichten. Vor ein paar Jahren war es das Malen. Mannsgroße Leinwände, literweise Terpentin und kiloweise Ölfarbe habe ich innerhalb weniger Monate vermalt, habe mich durch Bücher über Malmaterial und chemische Farbzusammensetzungen gearbeitet und mir sogar Ateliers zur Miete angesehen. Oder dieser Winter, indem ich das Snowboarden wiederentdeckt hatte. Ich las Tag und Nacht Snowboardblogs, kaufte mir acht Paar neue Skisocken (wer jeden Tag Boarden geht, dem reicht ein Paar Skisocken nicht), lackierte mein Board um und stürzte mich in Unkosten für eine neue Ausrüstung. Ich sah mich schon im Folgejahr einen Flug nach Kanada buchen, weil mir die Alpen längst zu klein geworden wären. Tatsächlich fuhr ich in diesem besagten Winter mit meiner neuen Ausrüstung genau einmal enthusiastisch nach Brauneck, ein mittelmäßiges deutsches Skigebiet, und dann passierte, was immer passiert: ich vergaß die Leidenschaft.

 

Als Kind hatte ich diese Begeisterungsschübe noch viel häufiger, aber für Kinder ist das ja auch programmatisch. Und dann kommen früher oder später die großen Eltern mit ihren großen Eltern-Zeigefingern und blicken auf einen hinunter und sagen mit ihrem großen Mund: „Bist du dir wirklich sicher, dass du Klavier spielen möchtest? Wir schaffen dir kein Keyboard an, nur damit wir es wieder verkaufen müssen in einem Jahr! Man muss die Dinge durchziehen. Du darfst einmal zum Schnupperkurs, aber dann musst du dich entscheiden und mal bei etwas bleiben, sonst wird das nichts im Leben.“ Wankelmut ist gleich Gefahr, lehren einen diese Elternworte und man möchte es sich gern merken.

 

Warum ist das so? Ich verstehe es natürlich schon – man stürzt sich möglicherweise ins Unglück, wenn man alles nur ein bisschen und nie etwas ganz macht. Am Schluss hat man vielleicht gar nichts mehr außer seiner vor sich hin changierenden Illusionen, eventuell nicht mal mehr ein Dach über dem Kopf. Die Leuten nehmen einen ja nicht ohne Grund nicht mehr ernst, wenn man ein Fähnchen im Wind ist - sie wissen eben nicht, worauf sie sich bei einem überhaupt noch verlassen können. Je weiter man sich vom Kindesalter entfernt, desto unzurechnungsfähiger kommt man also rüber, wenn man die Dinge nicht durchzieht. 

 

So klar mir auch ist, wie diese Begeisterung mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeht, so egal ist es mir auch

 

Ich neige deshalb dazu, mich im Nachhinein ein bisschen für meine großen Einbildungen zu schämen und mir vorzunehmen, die nächsten Anflüge von vornherein weniger ernst zu nehmen oder zumindest weniger laut rauszuposaunen. Gerade zum Beispiel. Ich brüte derzeit nämlich schon wieder eine Begeisterung aus. Ich bilde mir ein, einmal Sommelière zu werden. Es ist ein wahnsinnig harter Job, soviel habe ich bisher herausgefunden, und ich werde mich wohl sehr ausdauernd an ihn herantasten müssen. Gestern aber erst hörte ich von einem Freund, dass seine Freundin jetzt Sommelière werden würde. Mein Herz flackerte auf und schon sah ich auch mich am Weinhang stehen und über Büchern und Gläsern sitzen und alles über Wein und Trauben und das Klima und die Böden lernen. Aber so klar mir auch ist, wie diese Begeisterung mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeht, so egal ist es mir auch. Denn die Möglichkeit, dass eines Tages doch noch etwas Großes aus meinen vielfältigen Begeisterungsschüben hervorgeht, besteht. Das ist eine Tatsache.

 

Doch selbst wenn dem niemals so sein wird, wenn ich also niemals einen dieser Träume ganz durchziehen werde, ist mir das egal. Denn im Grunde sind diese Begeisterungsanfälle nur so etwas wie meine persönliche Strategie, mit der Kürze des Lebens zurecht zu  kommen. Ich meine, sonst könnte ich mich ja auch einfach auf sanfte Weise für etwas interessieren.  Aber das ist mir langweilig. Es muss schon immer gleich bedingungslos sein. Wer will denn eine Hobbymalerin sein? Eine Hobbyseglerin? Eine Hobbysnowboarderin? Ich will die Dinge nicht nur ein bisschen machen. Ich will sie ganz machen. Aber das geht natürlich nicht, dafür ist das Leben zu kurz und die Dinge zu viele. Ersatzweise, so interpretiere ich das jedenfalls, versuche ich unbewusst durch meine manischen Begeisterungsanfälle so eine Ahnung davon zu kriegen, wie mein Leben wäre, wenn ich mich komplett einer anderen Sache verschrieben hätte. Wenn ich mich statt dem Schreiben dem Malen oder dem Weltumsegeln oder der Welt des Weins verschrieben hätte, dem Leben als Extremsnowboarder oder dem der ... – was auch immer da noch kommen mag. 

 

Und dadurch, dass ich mich dann immer wieder für kurze Zeit völlig ernsthaft einem neuen Lebensentwurf entgegen steuern sehe, ist es, als lebe ich in diesem Moment dieses andere, neue, erträumte Leben schon. Und wahrscheinlich lasse ich es auch deshalb so schnell wieder fallen. Weil das ein paar Wochen andauernde intensive Dranglauben dann schon ausreicht. Ich muss es dann gar nicht mehr wirklich umsetzen. Ich muss nur wissen, dass ich es könnte. Dass ich noch dreihundert andere Leben leben könnte. Und dann bin ich auch schon zufrieden und kann mich in Ruhe dem dreihunderteinstem Leben widmen.

 

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