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Anne und ihre Jobs: Als ich Foto-Assistentin war
Früher dachte mein Bruder sich wagemutige Dinge aus – und ich mußte sie testen. Wenn sie schiefgingen, hatte ich eine neue Narbe. Wenn sie gutgingen, war es seine Idee! Das tat meiner Bewunderung aber keinen Abbruch. Und jetzt, im Nachhinein betrachtet, hatte es ja auch einen Nutzen für mich: die gezielte Schmerztherapie hat mich auf die Unannehmlichkeiten der Welt ganz gut vorbereitet. Irgendwann hört das zum Glück bei den meisten Mädchen auf, daß sie Brüder und Vater für die tollsten Männer der Welt halten, und sie schauen sich nach Nichtverwandten um. Der erste Mann, den ich heiraten wollte, war der Koch aus der Muppet Show. Danach kam lange nichts. Dann Colt Seavers: mit Cowboyhut und Zigarre in einer Badewanne voller Schaum. Daran mußte ich eines Morgens denken, als ich meinem Freund gerade dabei zuschaute, wie er ein Croissant in warme Milch tunkte. Von mir aus darf man gern Zehen in Bergseewasser tunken, oder Gemüsestäbchen in Joghurt wenn es sein muß, aber bitte nie: Gebäckstücke in Heißgetränke! Mein Freund war völlig in seine Zeitung vertieft und die Milch schon voller Bröckchen. „Ist was?“, fragte er. „Ne. Warum?“ „Du guckst so.“ „Wie gucke ich denn?“ „Na, als wäre was.“ „Es ist nichts. Wirklich nicht.“ Ich schüttelte das kalte Gefühl von meinen Schultern. Obwohl ich noch nichts gegessen hatte, war ich satt. Alles kam mir so langweilig vor. Tagsüber studierte ich, abends traf ich Mitbewohner, Freunde, meinen Freund. Hatte ich mir das Leben wirklich so gleichtönig vorgestellt? Sollte es das gewesen sein? So jung und schon am Ende! Was war mit Cowboyhut, Zigarre, verwegenem Lächeln, Abenteuer? „Mußt du nicht langsam mal los?“, fragte mein Freund. Er hatte Recht. Wie meistens. Ich griff meine Tasche und machte mich auf den Weg. Ich hatte mir ein Praktikum bei einem Fotografen gesucht. Es war mein erster Tag.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Beim Fotografen glänzte alles: das Studio, die Scheinwerfer, die Stative. Mein Alltag zu Hause wurde stumpf, stumpfer, grottenschwarz. Wir setzten in Szene, wir hübschten auf, Blitzlichtgewitter!
Nach ein paar Tagen sagte ich meinem Freund, es sei vielleicht besser, wenn wir uns mal ein paar Tage nicht sehen würden. Ein fataler Satz. Danach trennen sich die meisten, oder verloben sich. Das wußten wir beide. Aber jahrelanger Konsum von Seifenopern, Rosamunde Pilcher und Hollywood hatte uns auch gelehrt, daß Ultimaten in solchen Situationen nichts bringen. Deshalb widersprach mein Freund nicht, sondern nahm es hin.
Eines Tages stand im Studio alles im Zeichen der Dosen-Kohlroulade. Das Foto für die Banderole sollte gemacht werden. Extra zu diesem Zweck war ein Koch da, der in der Mitarbeiterküche die Rouladen zubereitete. Wir nahmen natürlich nicht die Kolhlrouladen aus der Dose (um die es ja eigentlich ging) für das Bild. Damals schockierte mich das ein bißchen, denn – was Werbung anging – litt ich unter einer naiv angehauchten Weltsicht.
Ich arrangierte einen rustikalen Holztisch mit Accessoires – Zwiebeln und krause Petersilie undsoweiter. Dann kam die erste Kohlroulade. Der Fotograf strich sie mit einer ordentlichen Portion Gelatine ein, damit sie schöner glänzte.
„Aber – ist das nicht Betrug?“, fragte ich den Fotografen.
„Wir zeigen den Leuten nur das, was sie sehen wollen. Sie möchten sich ohne Aufwand Dosenrouladen machen können, aber das Gefühl haben, sie würden etwas wirklich Gutes essen, etwas Selbstgemachtes.“
„Also astreiner Betrug.“
„Weißt du, vielleicht spielt es überhaupt keine Rolle, ob Wirklichkeit oder erfunden. Solange wir nur daran glauben können.“
Ich ging zu dem Koch in die Küche. Als ich ein Stück von einer verunglückten Roulade probieren wollte, schrie er auf und hielt mich zurück. Das könne man nicht essen, sagte er, das sei ja nicht mal gewürzt.
Über die nächste Roulade wurde wieder ordentlich Gelatine drübergelackt, dem Foto später noch zusätzliche Glanzhighlights aufgesetzt, die Farben gesättigt. Die Sauce bestand nur aus angedicktem dunklen Essig und künstlichen Substanzen.
All das Geglitzer beeindruckte mich kaum noch. War ja doch nur ein Fake und nicht echt. Aber war das wirklich wichtig? Sahen wir nicht ohnehin nur das, was wir sehen wollten? Was wir bereit waren, zu glauben?
Für das folgende Wochenende hatte ich eine ganze Menge zum Nachdenken.
Maß ich als Erwachsene die Männer immer noch an meinem damaligen Kindheitsideal? Hatten sie überhaupt eine faire Chance? Wäre das nicht genauso, wie eine selbsgekochte Roulade mit einer aus der Dose zu vergleichen?
Und wie echt war die ideale Roulade überhaupt? Sie war nicht gewürzt, gab also vor, geschmacklich etwas zu sein, was sie gar nicht war. Man konnte sie ja nicht einmal essen!
Mitten in der Nacht rief ich meinen Freund an, ziemlich betrunken: „Ich will überhaupt keine Kohlrouladen“, sagte ich und legte auf, ohne ihm Zeit für eine Antwort zu geben. Ich war mir nicht einmal selbst sicher, was das heißen sollte. Ob das nun für oder gegen ihn als Freund sprach. War er eine Kohlroulade? Und wenn ja, welche? Die aus der Dose, oder die Täuschung auf der Banderole?
Kurz darauf erhielt ich eine Nachricht von meinem Bruder. Sein Mitbewohner war ebenfalls Fotograf, und er hatte einen Job als Model übernommen für ein Stadtmagazin. Die Story:„Reich ohne Streß.“ Als ich die Zeitschrift aufschlug, landete ich direkt auf dem letzten Foto der Serie: da lag mein Bruder in einer Badewanne voller Geldscheine, mit Cowboyhut und Zigarre, Champagner, Goldkettchen, und auf dem Badewannenrand saßen Mädels in glitzernden Bikinis! Kein Scherz!
Irgendwie machte mich das froh.
Wen interessierte es schon, was auf der Banderole war, wenn der Inhalt dem entsprach, was er haben wollte? Es kommt wohl viel mehr darauf an, was wir aus einer Situation machen. Was wir bereit sind zu tun und zu sehen und zu glauben. Die Schuld für Eintönigkeit nur einer Person in die Schuhe zu schieben, konnte jedenfalls nicht die Lösung sein. Man sollte Croissant-Bröckchen in der Milch wohl nicht allzu große Bedeutung beimessen.
Als mein Praktikum zu Ende war, schnappte ich meinen Freund, ließ ihn eine Tasche packen und entführte ihn zum Bahnhof. Dann waren wir auf und davon. Die Zeit würde schon zeigen, wer von uns was für eine Kohlroulade war.
Text: anne-koehler - Illustrationen: katharina-bitzl