Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Anne und ihre Jobs: Als ich Diplomandin war

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Die Uni ist eine beschützte Welt unter einer Glasglocke. Durch all meine Jobs hatte ich einen tiefen Atemzug in der „echten“ Welt getan. Es war eindeutig Zeit, mit dem Studieren aufzuhören. Mit dem letzten Schein war auch die Verbindung mit Hildesheim gekappt. Ich zog nach Berlin, um dort meine Diplomarbeit zu schreiben. Diese bestand aus zwei Teilen. Der erste war eine literarische Arbeit, der zweite Teil die zugehörige Poetik. Die meisten Schriftsteller formulieren eine Poetik, wenn sie auf ihr über die Jahre gewachsenes „Werk“ zurückblicken können. Aber ich stand ja ganz am Anfang. Deshalb ging es mir nicht um Techniken oder die literaturwissenschaftliche Einordnung meines noch nicht vorhandenen Werks. Sondern um die grundsätzliche Frage: Warum überhaupt Schreiben?

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

In dieser Zeit las ich „Wir bleiben in der Nähe“ von Tilman Rammstedt. Schnell steckte ich mittendrin in der Geschichte um Felix, Katharina und Konrad. In der Mitte des Buches bekam ich es mit der Angst. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß der Autor noch ein angemessenes Ende finden könnte. Ich weigerte mich, weiterzulesen. Nachts lag ich wach und sorgte mich um die drei Hauptpersonen. Meine Neugier war so groß, daß ich nach drei Tagen doch weiterlas. Mit jeder Seite steigerte sich meine Furcht, schlug sogar in Wut dem Autor gegenüber um. Doch auf den letzten zehn Seiten geschah das für mich Unglaubliche: er fand einen Schluß, der Felix, Katharina und Konrad würdig war. Ich schlug das Buch zu und dachte das erste Mal ernsthaft über einen Heiratsantrag nach. Kurz darauf besuchte ich dieselbe Wochenendveranstaltung wie Tilman Rammstedt, wo sich folgende Szene in Variationen 27 Mal abspielte: Ich sah ihm ins Gesicht, dann sah er mich an (besser gesagt streifte mich sein Blick unabsichtlich), ich holte Luft, setzte zu sprechen an und brach sofort wieder ab – weil es keine Art war, jemandem einen Heiratsantrag zu machen, der einen dazu gebracht hatte, Angst zu haben und wütend zu werden. Es gehörte doch schließlich mehr dazu als zehn letzte Seiten eines Buches, um zu heiraten! Oder nicht? Wie war es möglich, daß eine fiktive Welt mein Gefühlsleben und mein Verhalten in der Realität beeinflußte? Als Kind haben mich vor allem die fiktiven Gestalten geprägt, nicht die Person des Autors dahinter. Und wirklich, wie Tilman Rammstedt da stand, kam er mir fremd vor. Die Szenerie paßte nicht zu meiner Vorstellung, die während des Lesens in meinem Kopf entstanden war. Da dämmerte es mir langsam: Ich wollte nicht Tilman Rammstedt heiraten, sondern seine Figuren. Oder nicht einmal das, sondern ich wollte Felix, Katharina und Konrad sein. Dieses Erlebnis nahm ich als Ausgangspunkt für meine Überlegungen in der Poetik. Ich begann, mich mit dem Ursprung des Schreibens zu befassen. Im Mittelpunkt stand das Verhältnis von Realität und Fiktion. Das läßt sich hier kaum in wenigen Zeilen zusammenfassen, ich verbrachte immerhin einige Monate mit diesen Themen. Ich gelangte zu dem Schluß, daß sich Schreiben und Leben nicht klar voneinander abgrenzen lassen. Realität und Fiktion sind nicht trennbar, sondern fügen sich wie ein Möbiusband ineinander. Dieser Umstand hatte mich ans Heiraten denken lassen. Um meine Aussagen zu stützen, zitierte ich nicht nur Autoren, sondern auch fiktive Personen. Beide hatten für mich einen eigenen Anspruch auf Realität. Dostojewski war mir genauso hilfreich, wie Max aus „Wo die wilden Kerle wohnen“. Das klingt jetzt vielleicht problemlos. Doch während des Schreibens war das anders. Jeden Morgen den Antrieb aufzubringen, ins Blaue zu theoretisieren, ohne zu wissen, zu welchem Schluß das alles führen sollte, war eine Quälerei. Wie oft ich Sätze, die ich nachts um drei für den großen Durchbruch gehalten hatte, am nächsten Morgen bei Tageslicht betrachtet leer und inhaltslos fand. Wenn ich in den Spiegel blickte und meine Grundfrage stellte (Warum überhaupt schreiben?), dachte ich jedes Mal nur: Ja, warum eigentlich? Nicht selten trug ich mich mit dem Gedanken, alles hinzuschmeißen. Auf dem Höhepunkt dieser Stimmung war ich an einem Februarmorgen. Ich saß am Rechner, als das Telefon klingelte. Eine männliche Stimme zeigte sich froh, daß ich wohlauf war. Nur mein Aufenthaltsort irritierte ihn. „Wir haben Sie heute um zehn hier erwartet, im Büro, in Shanghai“, sagte er. Ich erinnerte mich an meine Bewerbung einige Monate zuvor. Doch außer einer Nachricht, daß das vielversprechend aussehe und man sich bei mir melden würde, hatte ich nichts mehr aus Shanghai gehört. Irgendwo mußte die Zusage verlorengegangen sein. Ich blickte aus dem Fenster. Hagelkörner prasselten daumendick gegen das Glas. Ich schaute auf die konfusen Diplomarbeitsnotizen und wurde unsagbar müde. Doch ich machte weiter. Nach meiner Studienodyssee kam Aufgeben nicht in den Seesack. Irgendwo las ich, daß eine österreichische Prinzessin Marcel Proust nach dem Erscheinen von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ einen Heiratsantrag gemacht hatte. Da war sie schon wieder, diese Heiratsgeschichte! Ich schob das beiseite, biß die Zähne zusammen, und ganz allmählich bekam meine Poetik Substanz und Struktur. Vier Monate nach meinen nicht gemachten Heiratsanträgen lief ich Tilman Rammstedt erneut über den Weg. Auf der Bühne verfiel er plötzlich in einen federleichten Singsang über Anne Will. Ich hing an seinen Lippen und dachte: genau, Anne will, und ermahnte mich sofort wieder selbst: nein, Anne will nicht – denn trotz allem Reden über die Gleichberechtigung von realen und fiktiven Personen verfügte ich in meiner Lebensrealität über eine relativ gesunde Impulshemmung. Trotzdem, der Impuls selbst war weiterhin spürbar. Der Abgabetermin meiner Diplomarbeit fiel auf Tilman Rammstedts Geburtstag. Konnte es so viele Zufälle geben? Vielleicht ist diese Gratwanderung zwischen Realität und Fiktion ein immerwährendes Thema für einen Autor. Beim Schreiben wie beim Lesen versinkt man in eine fiktive Welt. Taucht man daraus wieder auf, hinterläßt die Fiktion Rückstände im Empfinden. So, wie Tilman Rammstedts Buch bei mir Heiratsgedanken ausgelöst hatte. Geschichten verändern uns also, wenn es ihnen gelingt, uns zu berühren. „Einleitung, oder: Von der Möglichkeit, Tilman Rammstedt innerhalb von 24 Stunden 27 Mal keinen Heiratsantrag zu machen“ – so heißt der Auftakt meiner Poetik. Tilman Rammstedt hat übrigens eine Ausgabe bekommen. Jetzt weiß er alles über die Nicht-Heiratsanträge – und er hat das schon richtig verstanden. Es heißt nichts anderes als: Dein Buch hat mich erreicht und verändert. Vielleicht eines der schönsten Komplimente, die man als Autor bekommen kann. Warum überhaupt schreiben? Na, warum eigentlich nicht?!

  • teilen
  • schließen