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Jungs, warum schaut ihr keine Serien mit weiblichen Hauptfiguren?
Liebe Jungs,
was Filme und Serien angeht, gucken wir Frauen so ziemlich alles. Welches Geschlecht dabei die Hauptrolle spielt, ist uns grundsätzlich egal. Von Serien wie „Breaking Bad“ über Komödien wie „The Big Lebowski“ bis zu Klassikern wie „Fight Club“ haben wir uns tonnenweise Produktionen angeschaut, die überwiegend männlich besetzt sind. Frauen spielen darin häufig nur „die Freundin von“, und wir lieben sie trotzdem. Wenn man aber euch nach euren Lieblingsfilmen und -serien fragt, nennt ihr selten einen Titel, in dem Frauen die Hauptrolle spielen. Klar: In „Game of Thrones“, der mitunter beliebtesten Serie der Welt, geht es nicht nur um Jon, Jaime, Bran und Tyrion, sondern auch um Daenerys, Cersei, Sansa und Aria – aber eben nicht nur um sie.
Kramt man dann nach Produktionen, in denen es hauptsächlich um Frauen geht, fallen einem erstmal die üblichen Namen ein: „Sex and the City“, „Girls Club“, „Der Teufel trägt Prada“, „Desperate Housewives“. In ihnen geht es um Liebe, Freundschaft und Intrigen, und sie werden folglich als „typisch weiblich“ gesehen und von euch tendenziell wenig geguckt. Was jedoch ist mit Filmen und Serien, die zwar größtenteils weiblich besetzt sind, aber nicht von Mode und Beziehungen und damit nicht von Themen handeln, die in unserer Gesellschaft noch immer als „Frauenthemen“ gelten?
Das aktuellste Beispiel: „Orange is the new Black“. Die Netflixproduktion über Frauen im Gefängnis hat in den vergangenen Jahren haufenweise Preise gewonnen, genauso wie „House of Cards“ oder „Stranger Things“. Nur, dass letztere ein gemischtes Publikum erreichen, während so gut wie alle Kritiken, die man zur siebten und letzten Staffel von „OITNB“ im Netz findet, von Frauen verfasst wurden. Auch in meinem Bekanntenkreis sind viele Frauen begeistert von der Serie, jedoch kein einziger Mann. Dabei sollte man meinen, dass „OITNB“ Themen behandelt, die viele eurer anderen Lieblingsserien bestimmen: Kriminalität, Gewalt, Macht, Drogen, Korruption, Politik. Wieso also gucken so wenige von euch die Serie?
Seid ihr es einfach nicht gewohnt, realitätsgetreue Frauen im Fernsehen zu sehen?
Liegt es vielleicht daran, dass ihr euch in „OITNB“ mit niemandem identifizieren könnt? Denn ob bei „Karate Kid“, dem „Dschungelbuch“ oder „Kevin – Allein zu Haus“: Schon in eurer Kindheit gab es viele Produktionen mit männlichen Identifikationsfiguren. Trotzdem: Wir Frauen lieben schließlich auch Filme und Serien, in denen es wenige bis keine weiblichen Identifikationsfiguren gibt. Kann das also wirklich der Grund sein? Und falls ja: Woran liegt das?
Oder seid ihr es einfach nicht gewohnt, realitätsgetreue Frauen im Fernsehen zu sehen? Denn im Gegensatz zu den meisten Filmen und Serien, in denen Frauen nahezu immer schlank, geschminkt, frisiert und beherrscht sind, gibt’s bei „OITNB“ Frauen von wirklich jedem Schlag: Die Protagonistinnen sind unter- und übergewichtig, hetero, bi, lesbisch und queer, haben Pickel und fehlende Zähne, sind sowohl zurückhaltend und schüchtern als auch aggressiv und gewalttätig, haben Drogenprobleme und teils schwere psychische Krankheiten. Sie sind so bunt gemischt wie Frauen es in der Realität eben auch sind. Aber macht das die Serie für euch wirklich uninteressant?
Also: Woran liegt es, dass ihr so wenig Filme und Serien mit Frauen seht? Habt ihr vielleicht schon welche angefangen und wieder aufgehört? Oder schaut ihr sie nicht, weil eure Freunde sie auch nicht schauen?
Bitte klärt uns auf,
Eure Mädchen
Die Jungsantwort:
Liebe Mädchen,
am liebsten würde ich antworten: „Hä? Das stimmt doch überhaupt nicht, wir haben da gar keinen Abwehrreflex.“ Aber leider wäre das eine Lüge. Gerade gestern Abend saß ich zu Hause auf der Couch und hatte nichts zu tun. Also Netflix. Die neue Staffel „Stranger Things“ hatte ich gerade zu Ende geschaut, auf „Das Haus des Geldes“ hatte ich keine Lust und bis die fünfte Staffel „Better Call Saul“ kommt, kann ich noch lange warten.
Also klickte ich mich, gefühlt zum hundertsten Mal, durch die Serien-Spalte und blieb kurz bei „Orange is the new Black“ hängen. „Wurde mir doch von Kolleginnen öfter empfohlen, hat gute Bewertungen, tausend Preise gewonnen“, dachte ich, aaaaaaaber … Nö. Lieber weiter das stupide Rumgeklicke, bis ich schließlich zum zweiten Mal „Der perfekte Wurf“, eine Sportdokumentation über Dirk Nowitzki, anschaute.
Schon am selben Abend habe ich mich gewundert, warum ich bei jeder Suche nach akzeptabler Abendunterhaltung bei „Orange is the new Black“ zwar kurz innehalte, aber nie auf „OK“, sondern immer auf den Pfeil nach rechts klicke. So geht es mir auch bei anderen Serien und Filmen mit exklusiv weiblichen Hauptrollen. Und das ärgert mich.
Superman und der Durchschnittsmann haben auch nicht viel gemeinsam.
Mit mangelnder Identifikationsmöglichkeit kann ich mich allerdings nicht herausreden. Ich schaffe es ja auch die Nowitzki-Doku anzuschauen, obwohl ich nicht allzuviel mit diesem 2,13-Meter-Riesen gemein habe, der zig Millionen Dollar verdient und zu den besten Basketballspielern in der Geschichte gehört. Ähnliches gilt übrigens auch für Superman, Don Vito Corleone und Homer Simpson.
Ich glaube, die ehrliche Antwort ist: Wir haben Vorurteile. Und weil es wohl nichts bringt, an dieser Stelle aufzuhören, versuche ich mich an einer Erklärung dieses Missstandes. Es ist zwar nicht so, dass es uns allen so geht wie diesem extrem verunsicherten Menschen, der auf Quora fragt, ob er schwul wird, wenn er „OITNB“ schaut. Aber in unserem Kopf gibt es eine Gleichung: Viele Frauen in den Hauptrollen = Chick-Flick. Es geht um Liebe, um Drama, um Intrigen und Emotionen. Die Dialoge sind platt, die Handlung vorhersehbar. All die Jahre, die wir neben unseren älteren Schwestern auf der Couch saßen und gezwungen wurden „Sex and the City“, „Gilmore Girls“ und „Gossip Girl“ anzuschauen, haben Spuren hinterlassen.
Leider hat sich in der 125 Jahre langen Geschichte des Films die Branche vor allem mit Heldengeschichten über Männer auseinandergesetzt. In den 200 best bewerteten Filmen von imdb.com finden sich ganze sechs Filme wieder, die eindeutig eine weibliche Hauptrolle haben: „Alles über Eva“ aus dem Jahr 1950, „Kill Bill Vol. 1“, „Raum“ und „Three Billboards“. „Die fabelhafte Welt der Amelie“ und „Das Schweigen der Lämmer“ schafften es sogar in die Top 100. Eine ganze Frauengruppe auf dem Filmplakat war nur einmal zu sehen: Bei „Manche mögen’s heiß“ – ein Film, in dem zwei Männer sich als Frauen verkleiden und mit Marilyn Monroe eine Band gründen. Einerseits liegt das daran, dass Männer – bewusst oder unbewusst – Filme und Serien mit weiblichen Hauptrollen schlechter bewerten.
Noch immer sind die meisten Regisseure in großen Produktionen Männer
Andererseits ist es aber auch leider so, dass richtig gut entwickelte weibliche Charaktere in groß finanzierten Filmen und Serien noch sehr selten sind. Glaubt man Hollywood-Filmen, kann man Frauen in sechs Kategorien einteilen: die Femme Fatale, die bemutternde Gutmütige, die Naive, die gerettet werden muss, die gut gelaunte Weltverbesserin, die einen armen, depressiven Mann aus der Einsamkeit rettet, oder die toughe „Powerfrau“. Männliche Charaktere sind oft besser ausgearbeitet, die Rollen weniger sind platt und man muss nicht bei jedem zweiten Dialog denken: Niemals würde jemals irgendein Mensch so reden. Das liegt daran, dass noch immer die meisten Regisseure in großen Produktionen Männer sind, genauso wie die Drehbuchautoren.
Trotzdem: Nichts von all diesen versuchten Erklärungen entschuldigt, dass wir uns – wider besseren Wissens und zahlreicher Empfehlungen von euch – trotzdem nicht überwinden können, wenigstens einmal bei „Orange is the new Black“, bei „Glow“ (da geht es ja sogar um Sport) oder „Transparent“ auf „OK“ zu drücken. Besonders, weil ihr uns ja sagt, dass in diesen Serien realitätsgetreue Frauen im Fernsehen zu sehen sind und wir mit unserer Ignoranz dazu beitragen, dass es solche Serien mit weiblichen Hauptrollen noch immer deutlich schwerer haben.
Danke für die Frage, wir werden uns ändern. Ich fange am besten heute Abend damit an.
Eure Jungs