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Jungs, warum könnt ihr Nerviges so gut ignorieren?

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Die Mädchenfrage

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Gegenüber von meinem Bett steht der Wäschekorb. Wie ein babylonischer Turm stapeln sich da im Sandwichsystem Socken, Kleider, Hosen und all das andere Gedöns, das ich innerhalb der letzten vier Wochen getragen habe. Es fehlt wahrscheinlich nur noch ein filigraner Seidenschal und das Ding kippt ganz plump um, verwüstet mein Zimmer. Ich hätte schon längst waschen können, aber mein Kleiderschrank ist immer noch übervoll und eigentlich seh ich das Elend nur kurz, nämlich vorm Schlafen gehen.  

Aufwachen gilt nicht, da nehme ich gar nichts wahr außer meiner schlechten Laune. Sprich: Das Wäschemonster lässt sich super ignorieren, zumindest vertagen, denn es gibt noch Alternativen. Damit ist mein Ignoranz-Potenzial aber auch gänzlich ausgeschöpft. Schreiende Kinder in der U-Bahn, der dämliche Ex-Freund mit Anhang, die Kollegin mit dem Schmatz-Tick, der Geburtstag von Oma, die unbezahlten Rechnungen – das muss alles gleich erledigt, organisiert oder sich großräumig drüber aufgeregt werden.

Selbst wenn der Kopf voll mit anderem Mist ist, ich kann sowas nicht ignorieren. Ihr dagegen habt bei der Schöpfung die volle Portion Ignoranz in die Pizzaschachtel bekommen. Nichts bringt euch aus der Ruhe. Alles, was irgendwie unangenehm ist, wird ausgeblendet. Über Stunden, Tage, Wochen oder sogar für immer. Egal, ob es sich dabei um lästigen Kleinkram wie überfällige Knöllchen oder brüllenden Großkram wie eure oder unsere Gefühle geht. Das Gute daran: Die meisten Nervsachen erledigen sich in der Zwischenzeit von alleine. Wahrscheinlich läuft bei euch sogar der Pizzakarton irgendwann selbstständig in den Müll.

Das macht mich höchst neidisch. Ich würde auch so gern souverän alle Reizthemen als unwichtig klassifizieren. Und es einfach nicht machen, nicht sehen, nicht hören. Ich wäre ja schon froh, man würde mir die Rage nicht zeitnah an meinen flackernden Augen ansehen. Deshalb: Wie macht ihr das und wie kann ich Ignoranz lernen? Eine optische Lautlosfunktion wäre ja schon ein Anfang. Da würde so viel mehr Zeit für Schönes übrig bleiben.



Die Jungsantwort

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Liebe Mädchen, ihr habt die Klischee-Falle jetzt ganz schön weit aufgemacht. Ihr, die verpeilten Schusselliesen, die die unübersichtliche Masse ihrer Kleidungsstücke in den Wahnsinn treibt. Wir, die konzentrierten, hoch effizienten, Eigentlich-schon-mehr-Maschine-als-Menschen-Typen. Hier die hilfsbedürftigen Chaoten, dort die zielstrebigen Macher. Weil wir uns so gut auf eine Sache fokussieren können, haben wir weniger Stress. Wollt ihr uns das sagen? Wir glauben das genauso wenig wie die Behauptung, Frauen könnten im Gegensatz zu Männern mehrere Dinge gleichzeitig tun.

Allerdings, das ist nun ebenfalls eine empirisch kaum belegte Beobachtung, entdecken wir in uns manchmal die Tendenz, die Dinge laufen zu lassen, die man auch als "allgemeine Wurschtigkeit" auslegen könnte. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass sich viele Dinge von alleine regeln. Eine Bananenschale kann man ruhig auf die Straße werfen, weil sie nach ein paar Tagen von selbst verrottet ist. Wenn das Abflussrohr unter dem Waschbecken undicht ist, stellen wir erstmal einen Topf drunter, bevor wir den Klempner rufen und vergessen dann, den Klempner zu rufen. Es gibt einige unter uns, die waren seit vier Jahren nicht beim Zahnarzt, und andere haben schon Mahngebühren in der Höhe eines Kleinwagens für ebay-Rechnungen und Kirchensteuer zahlen müssen. Unangenehmes wird aufgeschoben, vergessen, verdrängt, und stattdessen das angenehme Hier und Jetzt in Form ins Bewusstsein gepflanzt. Das Leben geht trotzdem. Allerdings haben wir auch die Erfahrung gemacht, dass sich manche Dinge eben nicht von alleine regeln.

Die Sache mit dem Zahnarzt gehört dazu: Nach drei Monaten ist das Ziehen im Backenzahn immer noch da und wenn wir mit der Zunge darüber fahren, spüren wir eine Einbuchtung. Mahngebühren, die den ursprünglichen Rechnungsbetrag um das Dreifache übersteigen, lassen uns am System der Geldwirtschaft zweifeln. Wir hören in diesen Momenten die Stimme unserer Mütter, die, während wir konzentriert und von allen Übel der Welt abgeschirmt vor unserer Playstation saßen, nölten: "Geh regelmäßig zum Zahnarzt!", "Räum endlich dein Zimmer auf!" und "Denk an deine Hausaufgaben!" Unsere Mütter erschienen uns damals als wunderliche Präzisions- und Organisationswerke der Natur. Unsere Mütter hatten den Komplettüberblick über unser Leben, sie wussten alles, vergaßen nichts und nörgelten oft. Und sie müssen auch mal Mädchen gewesen sein...

philipp-mattheis 

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