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In Teheran ist Sex Rebellion

Foto: Ebrahim Noroozi/AP

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Eine Armee von Einheitsnasen bevölkert dieses Buch. Sie sind schmal und fein und wohlgeformt – weil sie fast alle von einem Schönheitschirurgen operiert wurden. Aber zwischendurch taucht die ein oder andere naturbelassene Charakternase auf und sticht heraus. Die von Ana zum Beispiel, einer alleinstehenden Frau Ende zwanzig: „Sie war eine der wenigen Iranerinnen, die noch die unvollkommene Nase besaß, mit der sie geboren worden war, eine stattliche, kräftige gebogene Nase, die zum stolzen Markenzeichen ihrer Stärke und Individualität geworden war.“ Und das, obwohl Verwandte, Freunde, sogar Fremde auf der Straße, Ana bedrängt haben, sich „ihre Nase auf eine akzeptablere, heiratsfreundlichere Größe zurechtstutzen zu lassen“.

Die Nasen sind nur eines der wunderbar beobachteten Details in dem literarischen Reportage-Band „Stadt der Lügen. Liebe, Sex und Tod in Teheran“, der jetzt auf Deutsch erschienen ist. Die britisch-iranische Journalistin Ramita Navai betrachtet darin in acht Porträts das Leben der Teheraner, die sich einem so strengen Regelwerk ihres Staates und ihrer Religion unterwerfen müssen und auch gesellschaftlich so viel Druck und Gleichmacherei ausgesetzt sind, dass eben schon eine ganz normale Nase Symbolkraft haben kann. Dass Jugendliche, die auf der Straße tanzen, einer Massenrebellion gleichen. Dass ein Picknick am Rande einer vierspurigen Straße Freiheit bedeutet.

Eine drogensüchtige Prostituierte zeigte Ramita Navai einen Teil Teherans, der ihr bisher unbekannt war

Ramita Navai hat diese Möglichkeiten, kleinste Freiheiten auszureizen und Zeichen zu setzen, in den vergangenen Jahren genau beobachtet. Und die Lügen, die nötig sind, um das Leben ein wenig mehr nach den eigenen und etwas weniger nach den Vorstellungen der Machthaber zu führen, ohne dabei ins Visier der religiösen Führer, der Sittenpolizei oder des Geheimdienstes zu geraten. Diese Lügen sind der Grundtenor des Buches, das darum auch mit dem Satz beginnt: „Eines möchte ich von vornherein klarstellen: Wenn man in Teheran leben will, muss man lügen.“

Ramita Navai

Die britisch-iranische Autorin Ramita Navai

Foto: Graeme Robertson

Ramita Navai lebt selbst dort. Sie wurde in Teheran geboren, ihre Familie verließ Iran, als sie sechs Jahre alt war, während der Revolution 1979. Sie wuchs in England auf, arbeitete später als Journalistin und wurde 2003 schließlich Korrespondentin in Teheran, bis ihr das Ministerium für Kultur und islamische Führung die Arbeitserlaubnis entzog. Daraufhin unterrichtete sie als ehrenamtliche Englischlehrerin Straßenkinder im armen Süden Teherans, der im krassen Gegensatz zu den reichen Villenvierteln des Nordens steht, lernte dort eine drogensüchtige Prostituierte kennen, die ihr ihre Welt zeigte – und damit einen Teil der Stadt, der ihr bisher unbekannt gewesen war. Sie recherchierte weiter, sprach mit unzähligen Menschen aus verschiedenen Milieus und begleitete sie in ihrem Alltag. 

Irgendwann hat man das Gefühl, die Stadt wirklich zu kennen – wie sie sich anfühlt, wie sie riecht, wer dort lebt

Die acht Porträts, die aus dieser Recherche entstanden sind, lesen sich wie Erzählungen, durchsetzt von der Geschichte Irans vor, nach und während der islamischen Revolution, den Protesten 2009, Chomeini, Chamenei, Ahmadinedschad und Rohani. Und doch sind es keine Erzählungen, sondern Reportagen. „Nichts an diesem Buch ist Fiktion“, sagte Navai kürzlich in einem Interview. Das heißt, jede Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit. Oder mehreren wahren Begebenheiten. Die Porträts sind Collagen, zusammengesetzt aus verschiedenen Personen und Szenen, die zu einer stringenten Handlung angeordnet und verwoben wurden. Wie gefährlich es für Teheraner und Teheranerinnen sein kann, ihre Geschichten zu erzählen, sieht man an der Danksagung hinten im Buch: Dort werden zwar alle, mit denen die Autorin gesprochen hat, genannt – aber mit dem Vornamen, einem Pseudonym oder sogar nur einem Initial.

Angesiedelt hat Ramita Navai ihre Protagonisten entlang der Valiasr-Straße, dem langen Boulevard, der Nord-Teheran mit Süd-Teheran verbindet, und damit die Villen und den oft eher „westlichen“ Lebensstil mit der Armut, Kriminalität und strengen Religiosität. Jedes Porträt trägt den Namen einer Person, aber spielt auch an bestimmten Orten der Stadt, die in Zwischenüberschriften genannt werden und auf der gezeichneten Karte im Buch nachvollzogen werden können. So hat man schnell das Gefühl, mit dem jungen Blogger und Dissidenten Amir, dessen Eltern hingerichtet wurden, am Hafte-Tir-Platz zu stehen, oder mit der Prostituierten Leyla, die ihren Mann verlassen hat, auf dem Straßenstrich der Takhte-Tavoos-Straße – und irgendwann die Stadt wirklich zu kennen. Wie sie riecht, sich anfühlt und aussieht, wer dort lebt.

Manche der Porträts sind nur ein Schlaglicht auf ein Leben, andere sind geschlossene Geschichten mit Entwicklung, Spannungsbogen und einem bewegenden Ende. Und jedes beleuchtet ein bestimmtes Thema, etwa Scheidung, Homo- und Transsexualität, Terrorismus oder Prostitution, und welches Leid, aber auch welche Gefahren all diese Dinge in der islamischen Republik mit sich bringen. Und wie man darum Tricks und Lügen anwenden muss, um zu überleben. Besonders brisant ist dabei alles, was mit Sex zu tun hat, denn das Regime kontrolliert die Sexualität besonders rigide – was in Teheran anscheinend zu einer verborgenen Übersexualisierung führt.

Sex ist in Teheran mehr als der Geschlechtsakt. Er ist Machtinstrument und Mittel zur Rebellion

In „Stadt der Lügen“ ist Sex ständig Thema, mal unterdrückt, mal gewalttätig, mal ersehnt, mal absurd. Man findet ihn auf dem florierenden Schwarzmarkt für Pornografie, bei den Jungs der islamischen Freiwilligenmiliz „Basidsch“, die nur allzu gerne junge Mädchen kontrollieren, bei ihrem Kommandanten, der sich an kleinen Jungs vergeht, beim älteren Herren, der vorgibt, regelmäßig nach Mekka zu pilgern und stattdessen nach Thailand fliegt, bei der jungen Geschiedenen, die betet und fastet, um ihre Lust loszuwerden, oder bei der Prostituierten, die mit ihren Klienten Kurzehen, sogenannte „Sigheh“, eingeht, um den Akt zu legalisieren. In der Stadt kursieren schmutzige Witze über Mullahs, die nackte Frauen ins Haus lassen, oder „Teheran als Weltstadt des Analsex“, weil man so als junge Frau Sex haben und trotzdem mit intaktem Jungfernhäutchen in die Ehe gehen kann – ansonsten bleibt einem aber immer noch der Chirurg, der es wieder zusammenflickt. Sex, das merkt man schnell, ist in Teheran weit mehr als ein Geschlechtsakt. Er ist Machtinstrument oder Mittel zur Rebellion – und außerdem für viele Frauen der einzige Weg, ein einigermaßen unabhängiges Leben zu führen. 

Das Seltsame ist: Am Ende ist man, nach all dem Irrsinn, dem Leid, der Unterdrückung und Absurdität, nach einer Steinigung und einem Missbrauchsfall, Drogenkriminalität und mehreren unglücklichen Ehen, trotzdem verliebt in diese Stadt. Weil einen die Schicksale so sehr berühren. Weil Ramita Navai es schafft, dass man die tiefe Religiösität der jungen Somayeh ebenso versteht wie Amirs Atheismus. Weil immer wieder hilfsbereite Menschen auftauchen und sich immer wieder zwei Menschen wirklich lieben. Man hat dann das Gefühl, dass in dieser Stadt, in der nichts erlaubt ist, alles möglich ist.

In der letzten Reportage verlässt die alternde Farideh das Land, um einen Neustart in London zu wagen. Anfangs genießt sie die Freiheit dort. Aber dann fällt ihr auf, wie kühl und leidenschaftslos viele Menschen dort sind, und wie aggressiv viele andere. Wie viel es regnet und wie teuer das Leben ist. Sie bekommt Heimweh und schließlich kehrt sie zurück. Man kann sie verstehen.

Ramita Navai: Stadt der Lügen. Liebe, Sex und Tod in Teheran, Kein & Aber, 288 Seiten, 22 €.

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