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Neues Buch von "Die Welle"-Autor Morton Rhue über Radikalisierung im Internet
Auf den ersten Blick wirkt Todd Strasser wie ein netter, etwas kauziger Großvater. Mit einem kleinen Rucksack auf dem Rücken und einer Sonnenbrille um den Hals, in Flip-Flops, Bermuda-Shorts und einem Hawaii-Hemd läuft er die Fifth Avenue rauf. Er spreizt beim Gehen leicht die Arme ab, als könne er so besser das Gleichgewicht halten, und erzählt von den Sechzigern und Siebzigern in New York: den Protesten gegen den Vietnam-Krieg, dem Led-Zeppelin-Konzert im Central Park, den Drogen.
Und dieser Mann soll gerade ein Buch aus der Sicht eines sechzehnjährigen Islamisten geschrieben haben? In dem sogar Tweets vorkommen und Handy-Nachrichten, als sprechblasenförmige Kästen im Text? Wirklich? Todd Strasser lacht, und seine Augen werden dabei winzig klein. „In der ersten Version haben sich die Protagonisten E-Mails geschrieben“, sagt er. „Dann hat mein Sohn das Buch gelesen und gesagt: ‚Papa, das macht kein Mensch mehr!‘“
Strasser ist 66 Jahre alt und hat in den vergangenen 47 Jahren ungefähr 150 Jugendbücher geschrieben. Die genaue Zahl weiß er selbst nicht. Zwölf davon wurden ins Deutsche übersetzt – darunter sein berühmtestes: „Die Welle“. Das Original erschien 1981 unter Strassers Pseudonym „Morton Rhue“, die deutsche Übersetzung folgte 1984. Seitdem wurde das Buch in Deutschland mehr als drei Millionen Mal verkauft, 2008 mit Jürgen Vogel in der Hauptrolle verfilmt, und gehört zum Schullektüre-Kanon.
Der Riesenerfolg der „Welle“ in Deutschland rührte wohl auch daher, dass das Thema wie gemacht war für den deutschen Unterricht: Basierend auf einer wahren Begebenheit, erzählt es von einer Schulklasse, die einen Film über Nazi-Deutschland anschaut und dann ein Experiment zur Entstehung von Faschismus durchführt. Es geht um Gruppendynamik und Ausgrenzung. Und um den Satz „So was wie der Nationalsozialismus kann nicht noch mal passieren.“ Strassers neues Buch ist auch wieder eines, das gut in eine Unterrichtsdiskussion passt: „Dschihad Online“, Anfang des Monats bei Ravensburger erschienen (knapp zwei Monate vor der US-Veröffentlichung), erzählt die fiktive Geschichte von Khalil, Sohn bosnischer Einwanderer in den USA, seinem Bruder Amir – und ihrer Radikalisierung.
Und damit taucht natürlich eine Frage auf: Geht das denn? Kann ein weißer Amerikaner über 60 wirklich immer noch die Jugend und ihre Motive verstehen und erklären? In diesem Fall noch dazu die muslimischer Jungs mit Migrationshintergrund? Oder ist Strasser nur deswegen immer noch da, weil er gar nicht unbedingt Bücher schreibt, die junge Menschen gerne lesen – sondern solche, von denen Erwachsene gerne wollen, dass junge Menschen sie lesen? Und die deswegen auf dem Lehrplan landen?
Von Deutschland aus betrachtet könnte man ihm diesen Vorwurf wohl machen. Hier erscheinen vor allem die Bücher, die wie „Die Welle“ ernste und aktuelle Themen behandeln. „Ich knall euch ab“ (2002) zum Beispiel, über Amokläufe an Schulen. Oder „Asphalt Tribe“ (2005), über obdachlose Jugendliche in New York. Aber Strasser hat auch lustige Romane geschrieben und Science-Fiction-Geschichten. Die werden nur nicht übersetzt. „Wahrscheinlich ist der Humor zu amerikanisch“, vermutet er. Gerade arbeitet er an einer „fiktiven Biografie“: Der junge Protagonist gerät im New York Ende der Sechziger Jahre in Schwierigkeiten – und ist grob an ihn selbst angelehnt.
Darum führt der Spaziergang Strasser jetzt auch von der Fifth Avenue in den Central Park, in dem einige Szenen des Buchs spielen. Er macht sich Notizen auf einer Kladde: hier ist ein Tunnel, hier sind so und so viele Treppenstufen, hier ist Platz für eine Bühne. Aber dann seufzt er und sagt: „Ich werd’ langsam müde.“
Strasser ist auf Long Island aufgewachsen, hat 15 Jahre in New York gelebt, wohnt nun aber schon seit 25 Jahren in Larchmont, einer Kleinstadt eine halbe Stunde nordöstlich von hier. Er komme zwar ganz gerne her, sagt er – „aber wenn es geht, bitte nur für kurze Zeit“. Er schlappt in seinen Flip-Flops jetzt in den Food Court im Erdgeschoss des Plaza Hotels und setzt sich dort in die Ecke eines kleinen Restaurants. Vorerst scheint er nicht mehr hinter diesem Tisch hervorkommen zu wollen: Er schreibt „Salat mit Lachs“ auf ein gelbes Post-it, das er aus seinem Rucksack gekramt hat, und bittet, man möge an der Theke für ihn mitbestellen. Das ist okay, denn er sieht gerade wirklich sehr müde aus.
Mit seinen Büchern ist es oft so: Er hat eine Frage, er sucht eine Antwort – und teilt sie mit dem Leser
Als der Salat da ist, erzählt Strasser von der Arbeit an „Dschihad Online“ und wird dabei wieder munter. Er ist jetzt eher der Typ netter Deutschlehrer, unterstreicht seine klaren Sätze mit ruhigen Gesten und stellt viele Gegenfragen. Die Idee für das Buch, sagt er, hatte er nach dem Anschlag auf den Boston Marathon 2013. Die Täter, Dschochar und Tamerlan Zarnajew, seien Vorbilder für Khalil und Amir. Vor allem Dschochar, der jüngere, habe ihn interessiert: „Er war beliebt bei seinen Mitschülern und wirkte völlig integriert. Ich habe mich gefragt: Wie radikalisiert sich so jemand?“
So fange das oft an, mit seinen Büchern, sagt er. „Ich habe eine Frage, ich suche eine Antwort. Und wenn ich sie finde, kann ich sie mit dem Leser teilen.“ Er hat also alles zum Thema gelesen, was er finden konnte, hat sich Islamisten-Videos, und -Tweets angeschaut – und folgende Antwort gefunden: Es sei vor allem die Wut über Amerikas „Krieg gegen den Terror“, die seine Protagonisten antreibt. „Das, was die USA in anderen Ländern anrichten, wird von vielen eben auch als Terrorismus empfunden“, sagt Strasser.
Das ist natürlich keine arg komplexe Erklärung. Genauso, wie Strassers Figuren wenig komplex sind: Es ist immer klar, wer gut und wer böse ist. Und es ist eigentlich immer vorhersehbar, wer was machen und wer wie reagieren wird. Kann das legitim sein in einem Buch für Jugendliche, die sich dem Thema zum Teil zum ersten Mal nähern? Ein Ansatz, von dem aus man weiterdenken, miteinander diskutieren und sich eine Meinung bilden kann? Strasser sagt, er schreibe so gerne für Jugendliche, weil er das Zwischenstadium mag, in dem sie sich befänden. Dass sie gerade dabei seien, sich und ihren Platz in der Welt zu suchen. Und dass er sie in dieser Situation mit seinen Texten beeinflussen könne. Er will also, so plakativ das klingen mag, wirklich jemanden und etwas erreichen mit seinen Büchern.
Und wer sich daran erinnert, wie er zum ersten Mal „Die Welle“ gelesen hat – an den Grusel, der von der Gruppendynamik ausging, an die Konflikte zwischen Freunden, die daraus entstanden, an die Angst davor, das Experiment könne völlig eskalieren –, und wer heute „Dschihad Online“ liest, bekommt den Eindruck, dass Strasser das wirklich kann. Immer noch. Er trifft einen Ton, der funktioniert. Die Bücher verbindet ihre klare, schnörkellose Sprache, der sinnvolle Spannungsbogen – und vor allem der Platz, den Strasser den Zweifeln seiner Protagonisten lässt. Die Suche nach ihrem Platz in der Welt wird greifbar. Khalils Radikalisierung bleibt dadurch glaubwürdig, dass sie – obwohl das Buch nur schlanke 130 Seiten hat – recht subtil abläuft. Dass er immer wieder innehält und sich fragt: Bin ich Amerikaner oder nicht? Haben die Islamisten Recht oder nicht? Soll ich meinem großen Bruder vertrauen oder nicht?
Als Strasser das Buch anfing, ahnte er noch nicht, wie groß das Thema Islamismus bis zur Veröffentlichung werden würde. Paris, Brüssel, Nizza, Orlando, das alles war noch nicht passiert. Der IS und seine Macht im Internet waren in der Wahrnehmung noch nicht so groß. Würde er das Buch heute schreiben, sagt er, wären Khalils und Amirs Eltern vielleicht aus Syrien oder dem Irak. Stattdessen haben die Brüder bosnische Wurzeln – weil es in Bosnien einen Genozid an Muslimen gab, und Strasser seinen jungen Lesern damit zeigen will, dass auch Muslime gelitten haben.
„Mittlerweile halten die Menschen hier jeden arabisch aussehenden Mann für einen Terroristen“
Das, so sagt er, wolle er vor allem deswegen, weil ihm die wachsende Islamophobie im Land Sorge mache. Auch das zeigt, dass er immer noch da ist: Er macht sich über das, was in der Welt passiert, und vor allem junge Menschen beeinflusst, heute noch genauso viele Gedanken wie vor 30 Jahren. „Mittlerweile halten die Menschen hier jeden arabisch aussehenden Mann für einen ‚homegrown terrorist‘“ – für einen Terroristen, der in den USA geboren wurde, und das Land von innen heraus zerstören will also. Nach 9/11 sei wenigstens den meisten noch klar gewesen, dass nicht alle Muslime Verbrecher sind.
Noch so ein Thema, bei dem er eine ganz eigene Nähe aufbaut. Die meisten Menschen erinnern sich bei den Anschlägen vom 11. September als erstes an die Fernsehbilder. Todd Strasser hatte damals keinen Fernseher. Er saß in seinem Haus in Larchmont, las im Internet, was passiert war, und folgte seinem ersten Impuls: Er ging runter zum Auto und fuhr los, um seine beiden Kinder aus der Schule in der Nachbarstadt abzuholen. „Auf halben Weg dachte ich: Was für ein Unsinn! Warum sollten die bei mir zu Hause sicherer sein als in der Schule?“ Also drehte er um und fuhr zurück. Kam in der Stadt an einem Restaurant vorbei, das voller Leute war. Er hielt an, ging rein – und sah auf einem Fernsehbildschirm den zweiten Turm einstürzen. In den folgenden Tagen fuhr er mehrmals nach New York und half in einem Freiwilligen-Zentrum, Hilfsgüter zu sortieren.
Von einem Schriftsteller, der so nah am Geschehen war, würde man erwarten, dass er darüber schreibt. Zumal von einem, der so extrem viel schreibt. Aber es gibt kein Todd-Strasser- und auch kein Morton-Rhue-Buch über einen Jugendlichen, der 9/11 überlebt hat. Warum nicht? „Warum sollte irgendjemand hören wollen, was Todd Strasser dazu zu sagen hat?“, antwortet er. Dann denkt er kurz nach und legt seine Gabel in den Salat, durch den er sich seit einer Viertelstunde hindurcharbeitet. „Naja, wahrscheinlich könntest du das über das neue Buch genauso gut sagen. Ich kann den Unterschied selbst nicht genau erklären.“
Vielleicht macht auch das den Erfolg seiner Bücher aus: Dass dieser 150-Bücher-Autor eben nicht zu allem etwas sagen muss, sondern seine Themen immer noch bewusst auswählt. Wobei seine eigene Erklärung, wie er sie auswählt, weniger nach Kopf und mehr nach Bauch klingt: „Ich muss einfach das Gefühl haben, etwas dazu sagen zu können, was nicht jemand anders sagen wird, der es besser kann.“ So schafft er es, dass seine Bücher wirklich oft so wirken, als hätten sie geschrieben werden müssen. Kurz, aber auf den Punkt. In einer Kritik der New York Times zu seinem Buch „Fallout“ (über den Ausbruch eines Atomkriegs) heißt es, Strasser schreibe „sparsam und auf ein Ziel hin“, strukturiere seine Geschichte aber so intelligent, dass dabei trotzdem ein emotionales Gewicht entstehe und man den Figuren nahekommt.
Das ist schon lang so. Er war 19 und noch auf dem College, als er sein erstes Buch veröffentlicht hat, „Angel Dust Blues“, über Teenager, die beim Dealen erwischt wurden. Seitdem hat er immer geschrieben. Und fast immer davon gelebt.
Strasser hatte seine eigene Glückskeksfabrik – und verkaufte Kekse mit anzüglichen Sprüchen drin
Nach dem Studium hat er eine Weile als Journalist und in der Werbung gearbeitet – und Gebäck verkauft. „Ob du’s glaubst oder nicht“, sagt er, und grinst aus seinem grauen Bart heraus, „ich hatte meine eigene Glückskeks-Firma!“ Die allerdings keine klassischen Glückskekse produzierte, sondern welche mit Witzen und anzüglichen Sprüchen drin. „Aber nicht wirklich schmutzig!“ Das Beispiel, das er dann bringt, ist unübersetzbar, irgendein Wortwitz mit einem amerikanischen Sprichwort, in dem Frauen und wilder Hafer vorkommen. Die Kekse lagerte er kistenweise in seiner Wohnung in New York. „Meine Tochter hat sich neulich noch dran erinnert, dass sie ein Viertel Zimmer zum Leben hatte – und ein Dreiviertel Zimmer voller Kekse.“
Nach zwölf Jahren gingen die Keksverkäufe zurück, dafür die Buchverkäufe rauf. Und Strasser entschied sich, hauptberuflich Autor zu sein statt Keksfabrikant. „YA“-Autor, um genau zu sein, die englische Abkürzung für das Genre „Young Adult Literature“, Literatur für junge Erwachsene. Er hat zwar auch mal ein Buch für richtige Erwachsene geschrieben, aber das verkaufte sich nicht gut. Dann eins für Kinder, das wurde nicht mal veröffentlicht. Das sei wohl einfach nicht seine Art zu denken, vermutet er.
Also blieb er bei den Teenagern und besucht bis heute regelmäßig Schulen, für Lesungen und Diskussionsrunden. „Da rede ich dann manchmal mit Kids über ein Buch, das ich vor 15 Jahren geschrieben habe, und ein Schüler stellt mir eine Frage zu einer bestimmte Figur – und ich habe keine Ahnung, von wem er da eigentlich redet!“ Darüber muss er jetzt kurz sehr laut lachen.
Nach dem Essen gibt es Kaffee und obwohl es sehr viel Kaffee ist („Die haben wirklich große Tassen hier, toll!“) ändert das nichts daran, dass Strasser langsam wieder müde wird. Sagt er dann auch noch mal, mit dem gleichen kleinen Seufzer wie eben, im Park: „Hach, ich bin müde.“ Zeit, nach Hause zu fahren.
Statt zu Fuß die Fifth Avenue hinauf, geht es diesmal mit dem Taxi die Fifth Avenue wieder runter. Linkerhand taucht der Trump Tower auf – und stimmt, über dieses Thema muss man ja eigentlich auch schnell noch reden. Immerhin wird schon in sechs Wochen gewählt und immerhin ist Donald Trump einer, der die Islamophobie im Land anstachelt. Also? Todd Strasser seufzt wieder, diesmal genervt. „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll“, sagt er dann. „Trump ist nicht mal ein Politiker. Er ist einfach…ein Unfall.“ Er glaubt dennoch, dass er bei der Wahl eine Chance hat – weil Hillary Clinton eine so schwache Kandidatin sei. „Aber ich hoffe trotzdem sehr, dass sie gewählt wird.“
An der Ecke zur 42. Straße steigt Strasser aus, weil das Taxi nicht links abbiegen und ihn direkt zur Grand Central Station bringen kann. Er muss also noch drei Blocks laufen, trotz Müdigkeit. Er wirkt jetzt wieder ein bisschen verloren, hier an der Kreuzung und in seinem Hemd mit den Palmenmotiven, auf dem „Hawaii“ steht und „Aloha“. Schnell noch eine letzte Frage: Will er sich irgendwann zur Ruhe setzen? „Nein“, sagt er, „ich glaube, ich werde irgendwann zur Ruhe gesetzt. Die Jugendlichen wollen mich irgendwann nicht mehr lesen, und dann werde ich eben nicht mehr verlegt. Aber schreiben werde ich dann trotzdem noch.“