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Interview mit Fatma Aydemir
Die junge Deutsch-Türkin Hazal wächst in Berlin-Wedding auf. Sie leidet unter den strengen Regeln ihrer Eltern, hängt mit ihren Freundinnen rum, fiebert ihrem 18. Geburtstag entgegen und hofft, dass ihr Leben bald endlich richtig losgeht. Doch dann begeht sie einen riesigen Fehler und muss untertauchen – sie flieht nach Istanbul.
Das ist die Geschichte von „Ellbogen“, dem großartigen Debüt-Roman der 30-jährigen Journalistin Fatma Aydemir. Wir haben mit ihr über das Buch, die Lebenswelt junger Deutsch-Türkinnen, Integration und die Zukunft der Türkei gesprochen.
jetzt: Hazal und ihre Freundinnen stammen alle aus Migranten-Familien. Ist es typisch, dass sie unter sich bleiben und kaum Kontakt zu Kindern deutscher Eltern haben?
Fatma Aydemir: Kinder aus Migranten-Familien knüpfen untereinander einfach schneller Freundschaften, weil sie bestimmte Erfahrungen teilen oder dieselbe Muttersprache sprechen. Und auch aus dem ganz pragmatischen Grund, dass sie häufig im selben Viertel wohnen.
Als Clique grenzen sie sich aber auch selbst von Deutschen ab: Sie nennen sich selbst „Kanaken“, Deutsche nennen sie „Kartoffeln“ und machen sich über sie lustig. Warum?
Wer in einem Land aufwächst, aus dem die Eltern nicht kommen, fühlt sich von klein auf oft ausgegrenzt, sowohl aktiv, durch rassistische Erfahrungen im Alltag, bei Behörden, an der Schule, als auch passiv, durch kulturelle Unterschiede. Das eigene, aktive Abgrenzen ist eine Reaktion darauf: Man verurteilt die „Kartoffeln“, die einen verurteilen.
Deine eigenen Eltern sind auch aus der Türkei, oder?
Ja, ihre Eltern waren damals Gastarbeiter, sowohl meine Mutter als auch mein Vater sind als Jugendliche nach Deutschland gekommen. Ich bin hier geboren und aufgewachsen.
Ist Hazals Lebenswelt im Roman auch durch Erfahrungen geprägt, die du selbst als Jugendliche gemacht hast?
Ich bin auf dem Land aufgewachsen, da gab es wenig andere Migranten-Kinder. Aber als ich auf die weiterführende Schule in der nächsten größeren Stadt kam, hatte ich einen sehr gemischten Freundeskreis, mit Russlanddeutschen, Einwanderern aus Polen und so weiter. Wir haben nicht eins zu eins so gesprochen wie die Jugendlichen in meinem Buch, aber es gibt Ähnlichkeiten.
Hast du auch Zeit mit Jugendlichen im Wedding verbracht?
Ich habe dort Familie und als ich vor sechs Jahren nach Berlin zog, habe ich eine Weile im Kinderzimmer meiner Cousins auf der Matratze geschlafen. Da habe ich sehr viel Zeit in der Nachbarschaft verbracht und bestimmte Sachen aus meiner Jugend wiedererkannt – aber in viel konzentrierter, viel „türkischer“.
Wie meinst du das?
Der Wedding ist ein Ort, der mich schon immer sehr fasziniert hat: ein Arbeiterviertel, wo viele Gastarbeiter untergebracht wurden, und das vor allem in der Ecke, in der meine Familie lebt, zu 90 Prozent türkisch geprägt ist. Das Nachbarschaftsgefüge ist ähnlich wie in der Türkei, jeder kennt jeden, alle sind ständig in Kontakt. Und die Jugendlichen dort entwickeln eigene Codes und eine eigene Sprache.
Hazals Familie ist sehr traditionell und es wird ein Unterschied zwischen Hazal und ihrem Bruder Onur gemacht. Kannst du diesen Unterschied genauer beschreiben?
In der Türkei, aber auch in der deutsch-türkischen Community, gibt es immer noch viele Familien, in denen sehr patriarchalische Strukturen herrschen. Töchter gelten dort als etwas, das unbedingt beschützt werden muss. Da steckt nicht unbedingt der Gedanke dahinter, sie unterdrücken zu wollen, sondern das veraltete Bild der Frau als Opfer: Wenn die Tochter nachts draußen ist, denkt man, ihr passiert was Schlimmes.
In Hazals Clique verhalten sich die Mädchen dafür eher „männlich“: Sie fluchen viel, sind aggressiv und werden sogar körperlich gewalttätig.
Junge Mädchen, vor allem junge Deutsch-Türkinnen, tendieren oft zu diesen Extremen: Auf der einen Seite das übertrieben Feminine, mit viel Schminke und total unbequemen High Heels, auf der anderen Seite aber auch dieses Jungs-Gehabe – weil Männlichkeit mit Macht assoziiert wird und wenn man kein Opfer sein will, verhält man sich eben so, wie man es eher von Jungs erwarten würde. Das hat aber auch viel mit der Pubertät und der Spätpubertät zu tun, wenn man verschiedene Rollen ausprobiert und auf der Suche nach dem ist, was man selbst für richtig hält.
Stimmt, viele von Hazals Sorgen und Gefühlen kennt jeder von uns aus der Pubertät und vom Erwachsenwerden: ihre Langweile, ihre Wut, ihre Scham.
Ja, das war mir wichtig! Migration und Identität sind Themen, die mich schon beschäftigen, seit ich denken kann, aber genauso wusste ich von Anfang an, dass sich das Buch auch um dieses Alter drehen soll, weil mich das auch total interessiert. Was es bedeutet, volljährig zu werden, und wie flexibel man noch in seinen Moralvorstellungen ist.
Hazals Eltern sind nie richtig in Deutschland angekommen. Als Konsequenz sind sie frustriert und behandeln ihre Tochter schlecht. Wie viel Verständnis muss oder sollte man für sie haben?
Ich würde die Lesart nicht vorgeben wollen, denn es ist berechtigt zu sagen: „Die Eltern sind Arschlöcher!“ Aber es ist genauso berechtigt zu sagen: „Sie hatten es schwer, sie haben keinen Anschluss gefunden.“ Es war ein sehr langer Prozess, bis die deutsche Gesellschaft verstanden hat: Diese Menschen leben hier und die gehen nicht wieder weg. Gleichzeitig mussten auch die Gastarbeiter-Familien sich eingestehen, dass sie bleiben werden. Sie kamen damals, um Geld anzusparen und dann wieder in die Türkei zurückzukehren. Viele haben das bis heute in ihren Köpfen. Diese Elterngeneration ist sehr speziell: weil sie nie richtig angekommen ist, aber auch nie richtig weggehen wird.
Auch Hazal lebt mit einem ständigen Gefühl der Zerrissenheit: zwischen zwei Ländern und Kulturen und zwischen der traditionellen Familie und der modernen Welt draußen. Kennst du dieses Gefühl auch?
Generell ja, aber bei mir ist es ein bisschen anders, ich bin ja auch schon älter als Hazal. Mir sind nationale Strukturen total unwichtig und ich lebe sowieso schon eine Hybrid-Form, in der sich alles vermischt hat: türkische Erziehung, deutsche Schule, Popkultur aus den Staaten, meine Vorliebe für Lateinamerika und so weiter. Wenn Hazals Geschichte noch weitergehen würde, wäre das vielleicht der nächste Schritt, den sie machen und verstehen würde: Dass diese „Zerrissenheit“ auch cool und produktiv sein kann.
Hazals türkische Tante, modern und erfolgreich im Job, findet: „Wer nichts reißt, hat sich nicht genug angestrengt.“ Hazal glaubt ihr nicht – sie sagt, dass ihr das Leben „Ellbogen reingerammt" hat, „von denen, die stärker sind als wir“.
Das ist total paradox! Zum einen wird unter Migranten dauernd über Rassismus diskutiert, weil viele damit Erfahrungen machen. Ich kenne das auch: Ich bin Journalistin und habe studiert und so weiter, aber Interviewpartner nehmen mich oft nicht ernst – und das liegt meistens an meinem Namen. Zum anderen ist das Leistungsdenken bei Migranten total ausgeprägt. Wenn jemand nichts erreicht, heißt es: „Du hast dich nicht genug angestrengt.“ Aber gut, wenn man nicht daran glaubt, dass man es selbst in der Hand hat, was aus einem wird, kann man sich ja gleich aus dem Fenster schmeißen…
Du hast in den vergangenen drei Jahren jeweils mehrere Monate in Istanbul gelebt, Teile deines Romans spielt ebenfalls dort. Gibt es in Istanbul auch eine deutsch-türkische Community?
Weniger eine Community, sondern eher einzelne Menschen, die es dort hinzieht. Für meine Generation von Deutsch-Türken ist es typisch, Zeit dort zu verbringen: Man denkt, man muss das auch mal gesehen haben, und hat das Gefühl, es sei so eine Art Zurückgehen – was natürlich nicht stimmt. Man ist ja in Deutschland geboren, man kann nicht in die Türkei „zurückgehen“. Istanbul ist aber auch das Ziel vieler Deutsch-Türken, die in Deutschland Dreck am Stecken haben und in Istanbul von vorne anfangen wollen.
Wegen der aktuellen Entwicklungen in der Türkei wollen jetzt aber sicher weniger junge Deutsch-Türken nach Istanbul, oder?
Man darf nicht vergessen, dass viele aus der Community in Deutschland sehr regierungstreu sind, das hat man ja bei den letzten Wahlen gesehen. Die nehmen die Warnungen nicht immer ernst und sagen, die Situation werde in den deutschen Medien total aufgeblasen und in der Türkei sei eigentlich alles okay. Nur die Terroranschläge, die lassen sich nicht leugnen und schrecken sicher einige ab.
In den vergangenen Jahren war Istanbul ja auch zu eine der beliebtesten Erasmus-Städte. Das ändert sich nun sicher auch, oder?
Ja, auf jeden Fall. Kadiköy, wo ich gelebt habe, war eines der beliebtesten Viertel bei jungen Ausländern. Vor 2015 war es unmöglich, da eine Wohnung zu finden, weil alles über Airbnb lief und superteuer war. Im Jahr drauf sind die Preise um die Hälfte abgestürzt, aber trotzdem ist niemand seine Wohnung losgeworden.
Willst du selbst denn bald noch mal nach Istanbul?
Nein. Erstmal brauche ich Abstand. Ich habe den Putschversuch im Sommer miterlebt und gesehen, wie sich der Druck auf die Bevölkerung erhöht hat. Davon muss ich mich erstmal erholen.
Was glaubst du, wie es weiter geht mit der Türkei?
Ich würde gerne etwas Hoffnungsvolles sagen: dass alles wieder gut wird, Minderheiten nicht mehr unterdrückt werden, Journalisten nicht mehr in den Knast müssen, weil sie ihren Job machen – aber seit den Gezi-Protesten passieren so viele krasse Sachen. Und jedes Mal denkt man, dass die Regierung endlich einen anderen Weg einschlägt oder jemand anders an die Macht kommt. Aber es passiert einfach nie und spitzt sich immer weiter zu. Deswegen fällt es mir schwer, Hoffnung zu äußern – und meine Dystopie möchte ich hier lieber nicht auspacken (lacht).