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Liebespaare: Kamilya und Daniyar mit dem langen Atem

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Kamilya wohnt in Kasan, der Hauptstadt der autonomen Republik Tatarstan in Russland. Sie studiert internationale Beziehungen. Eigentlich wollte ich ja Freiheit. Aber dann kam die Liebe dazwischen. Als ich Daniyar kennen lernte, war eine Beziehung das letzte, wonach mir der Sinn stand. Mit meinem letzten Freund war es seit ein paar Tagen vorbei und ich verbrachte jede wache Minute damit, die Trennung zu beheulen. Ein bisschen freute ich mich aber auch darauf, die Unabhängigkeit auszuprobieren. Seit meinem vierzehnten Lebensjahr war ich durchgehend liiert - ich kann mich eigentlich kaum an Zeiten erinnern, in denen ich als "Ich" und nicht als "Wir" funktionierte. Jetzt wollte ich zum ersten Mal anziehen, was ich will, spontan verreisen, ohne fragen zu müssen, allein auf Partys gehen. Die Silvesterparty 2008 sollte aber die erste und letzte bleiben, die ich als Single besuchte. Ein Junge namens Daniyar stellte sich mir vor und wich von da an nicht mehr von meiner Seite. Ich war sofort von ihm eingenommen, hielt ihn aber auf Distanz - obwohl ich große Lust gehabt hätte, ihn zu küssen. Ein bisschen Beziehung, das sah man ihm aber gleich an, würde er mit sich nicht machen lassen. Daniyar ist ein richtiger Mann - entweder ganz oder gar nicht. Und hartnäckig noch dazu. Obwohl ich bei meinem Nein blieb, machte er mir den Hof: Geschenke, SMS-Regen, drei Blumensträuße pro Woche. Das übliche Umwerbungsprogramm.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ich hatte Angst, vor so viel Andrang zu kapitulieren und war froh, mit meinen Eltern in die Vereinigten Arabischen Emirate zu fliegen. Im Urlaub sammelte ich mich wieder. Ich fühlte mich schön, gebräunt, stark und wollte auf keinen Fall wieder unter die Haube. Aber als wir zu Hause landeten, war Daniyar das erste, was ich sah - mit einem riesigen Rosenstrauß. Unser Flieger hatte sechs Stunden Verspätung, er hat trotzdem die ganze Zeit auf dem unbeheizten Flughafen ausgeharrt - im Januar! Die Blumen hatten sogar Reif auf den Blüten. Ein paar Tage später gab ich mich geschlagen. Daniyar hatte mich nach Hause begleitet, es war schon spät und trotzdem hell, weil Vollmond war und Schnee überall. Der Himmel spuckte riesige Flocken, so groß wie Wattebäusche. Daniyar hat immerzu versucht, mich an der Hand zu fassen, ich wich seinem Blick aus, rannte fast, weil ich ahnte, was kommen würde, falls wir stehen bleiben. Ich hatte Recht. Als wir vor meiner Haustür ankamen, gestand er mir seine Gefühle - eine Liebeserklärung und ein Ultimatum zugleich. „Willst du mit mir sein?“ hat er gefragt. „Oder ich geh für immer aus deinem Leben.“ Falls ich nicht sein Mädchen sein wollte, werde er auf Allah schwören, mich nie wieder zu sehen – um sich mit dem Eid gegen die eigene Schwäche zu versichern. Da wusste ich: Es ist ihm ernst. Ich glaube, es war diese Konsequenz, diese Verbindlichkeit, die mich letztendlich überzeugt hat. Ich habe ja gesagt. Wir haben uns umarmt, dann schickte ich ihn nach Hause. Man darf nichts überstürzen, sonst steht man als Frau schnell im Verdacht, eine Rumtreiberin zu sein. Als Daniyar gegangen war, war ich verwirrt. Einerseits war ich glücklich, anderseits hätte ich mich am liebsten selbst geohrfeigt. Autonomie konnte ich jetzt vergessen. Daniyar hatte mir zwar versprochen, mir Freiraum zu lassen, aber er ist nun mal ein traditioneller Moslem. Als Frau mit eigenem Kopf hat man es da schwer. Seine vorige Freundin war eine Abnickerin, sie hat zu allem ja gesagt und war bereit, für ihn das Kopftuch anzuziehen und zu Hause zu sitzen. Ich nicht. Wir zoffen uns oft, ob meine Kleider zu kurz sind und ob ich allein mit meinen Kumpels weggehen darf. Aber das ist es mir wert. Ich bin 19, die Zeit des Leichtsinns ist vorbei. Man muss Prioritäten setzen. Und auch mal zurückstecken, um der Zukunft willen. Ja, Daniyar ist oft einengend. Aber ich glaube, er wird ein guter Vater. Er erhebt mir gegenüber nie die Stimme - das heißt, er wird auch später nicht seine Hand erheben. Neben ihm fühle ich mich ruhig und sicher. Und darauf kommt es am Ende an. Sobald wir finanziell auf eigenen Füßen stehen, wollen wir heiraten. Das mit der Emanzipation müssen wir noch üben, aber es geht voran, wenn auch langsam. Wir passen uns einander an. Ich habe zum Beispiel gelernt, nachsichtiger mit seiner Eifersucht zu sein. Meiner Meinung nach ist Partnerüberwachung ein Zeichen von Unsicherheit. Ich habe genug Selbstbewusstsein. Wenn ich ihn mit einem anderen Mädchen erwischen würde, täte es sehr weh, aber ich würde es ihm verzeihen. Männer machen so was, es ist was Physisches. Frauen tragen da mehr Verantwortung. Weil wir die Klügeren sind. Auf der nächsten Seite erzählt Daniyar, wie seine Liebe zu Kamilya begonnen hat.


Daniyar studiert Wirtschaftswissenschaften und arbeitet in der Versicherungsbranche. Er wohnt ebenfalls in Kasan. Ich kann nicht genau sagen, ob meine Gefühle für Kamilya im Kopf oder im Herzen wohnen. Vermutlich überall, so richtig trennen kann man das sowieso nicht – ohne Herz springt der Kopf nicht an, ohne Kopf verpufft die Verliebtheit. Als ich sie auf dieser Party sah, so ernst, so grazil, so zerbrechlich, ist etwas in mir stehen geblieben. Ich konnte einfach nicht weggucken, es war fast zwanghaft. Ich weiß aber nicht, ob meine Faszination nicht ins Leere gelaufen wäre, wenn andere Voraussetzungen nicht gestimmt hätten. Verliebtheit fühlt sich gut an, aber in meinem Alter hat man keine Zeit für kurzweilige Beziehungen, die im Nichts enden. Wenn die Lebensentwürfe nicht zueinander passen, ist die Leidenschaft verschwendet. Die Liebe hält drei, vier Jahre – und dann? Ich forschte also in der Partyrunde nach Kamilyas Hintergründen und wurde mit jeder Minute verliebter: Sie war Muslima, gebildet, aus einer guten Familie – sie war perfekt! Und ich restlos verschossen. Sie musste einfach mein Mädchen werden! Wenn ich Kamilya hätte ziehen lassen, hätte ich es mir nie verziehen. Also habe ich alles Mögliche und Unmögliche getan, um sie zu gewinnen und hätte meine Anstrengungen, wenn nötig, potenziert. Mag sein, dass ich lästig war, aber es ging um Alles! Um Alles! Ich war ganz selbstzerstörerisch verliebt, wie besessen. Mein Gehirn hat nur in eine Richtung funktioniert - eine Einbahnstraße mit dem Namen Kamilya. Egal, wo meine Gedanken anfingen, sie hörten immer bei ihr auf. Diesem Mädchen meine Liebe zu gestehen, war schlimmer, als alle Lebensprüfungen davor zusammengenommen. Noch nie war das Ergebnis so wichtig. Ich hielt den Status Quo nicht aus, wollte Klarheit auf Gedeih und Verderb. Mit ihrem Wort richtete Kamilya über meine Existenz, so schien es. Ein Nein hätte mir die Luft zum Atmen abgedreht. Aber ich bin konsequent – hätte sie an diesem Abend meine Liebe endgültig zurückgewiesen, hätte ich sie nie wieder gesehen. Ich bin ein Moslem, ich bin ein echter Mann: Mein Wort ist Tat. Auch wenn es mich ruiniert. An diesem alles entscheidenden Abend standen wir vor ihrer Haustür und flüsterten, der Nachbarn wegen. Mein Herz klopfte aber so laut, dass ich sicher war, dass sie uns trotzdem hörten. Kamilya war wie immer makellos, wie eine Porzellanpuppe. Ich kam gerade vom Boxen und hatte meine Trainingsklamotten an, sah aus wie ein Idiot und fühlte mich auch so. Meine Zunge versagte. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich ganz machtlos. Wenn Kamilya nur in meinen Kopf schauen könnte! Wenn ich ihr nur begreiflich machen könnte, was ich für sie empfinde – dann könnte sie einfach nicht Nein sagen. Mir schien, als sei alles ein Kommunikationsproblem. Ich konnte das, was in mir vorging, beim besten Willen nicht verbalisieren. Aber sie hat trotzdem verstanden. Und ja gesagt. Meine Eltern mahnen immer: Du wirst viel Kummer mit diesem Mädchen haben. Das stimmt. Kamilya ist oft eigenwillig und stur und vertritt Ansichten, die sich für eine Frau nicht gehören. Mit anderen Mädchen wäre es sicher einfacher. Vielleicht war doch mehr Herz als Kopf im Spiel und vielleicht werde ich später teuer bezahlen müssen. Aber ich habe mich für Kamilya entschieden und stehe dazu. Sobald ich genug Geld verdiene, um eine Familie zu unterhalten, werden wir heiraten – wenn Gott so will. Bei ihr kann ich irrational sein, weich. Kamilya ist mein einziger wunder Punkt. Sie macht mich angreifbar und das ist irgendwie schön. Jetzt versagen mir wieder die Worte, aber sie ist . . . alles. Ich kann es nicht besser sagen. Wenn sie einen Anderen küssen würde, wäre es das Schlimmste, was mir passieren könnte. Ich müsste sie verlassen – nicht wegen irgendwelcher Prinzipien, sondern weil das Ideal "Kamilya" kaputt wäre. Es geht nicht um Sanktionen, es geht um Ekel. Mit diesem Mund soll sie meine Kinder küssen? Es geht nicht. Ich würde sie fallen lassen müssen. Auch wenn es mich umbringt. Dieser Beitrag entstand bei einem Workshop des Goetheinstituts in Kasan für das deutsch-russischsprachige Portal Totschka-Treff.

Text: wlada-kolosowa - Illustration: Katharina König

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