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Wenn Dating Apps süchtig machen
„In einem Monat wirst du es dir wieder installieren“, prophezeite die fast fremde Frau, bei der Max (der eigentlich anders heißt, aber anonym bleiben möchte) an einem Abend kurz vor Weihnachten in der Küche saß. Kurz zuvor hatte er alle Dating-Apps von seinem Handy gelöscht und ihr davon erzählt.
Das hier sollte sein letztes Date werden. Er wollte mehr Zeit im Leben und weniger vor dem Handy verbringen. „An diesem Punkt war ich auch schon öfter“, sagte die neue Bekanntschaft. Aber sie habe keinen Monat durchgehalten, bis sie Tinder wieder installiert hat.
Die beiden verstanden sich. Verabredeten, sich in Zukunft regelmäßig zu besuchen, als Freunde. An diesem Abend war sich Max sicher, dass er Tinder und Co. nicht mehr brauchte. Dass er mittlerweile längst anhängig von der Dating-App war, konnte er sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingestehen.
Dabei hat Max mittlerweile ein klassisches Suchtverhalten entwickelt: Noch vor dem Aufstehen verbringt er morgens manchmal zwei Stunden damit, Nachrichten zu schreiben und Matches zu suchen. „Das hat definitiv Suchtcharakter“, erzählt der Student. „Aber das merkt man anfangs nicht. Mit der Zeit ist mir klar geworden, dass mir das eher schadet, als dass es mir guttut, aber es ist eben schwer, damit aufzuhören.“
Anfangs war das anders. Da eröffneten ihm Tinder und später OkCupid (wo man nicht durch Bilder, sondern durch einfallsreiche Selbstbeschreibungen miteinander ins Gespräch kommt) eine ganz neue Welt, von der er noch heute begeistert erzählt: „Auf Partys habe ich mich als Mann selten getraut, Frauen anzusprechen, weil ich nicht einer von diesen Mackern sein wollte“, erzählt er. „Online ist alles lockerer und man kann sicher sein, dass Dates auf gegenseitigem Interesse beruhen.“ Nach der letzten festen Beziehung kaufte er sich deshalb extra ein tinderfähiges Smartphone.
Dabei würde man nicht glauben, dass Max, Mitte zwanzig, Schwierigkeiten haben könnte, Dates zu finden. Er spricht bedacht, aber nicht einschläfernd, er wirkt zuvorkommend, aber nicht übergriffig, er hat Geschmack, aber keinen abgehobenen. Und trotzdem kostete es ihn damals, in der analogen Welt, viel mehr Überwindung, eine Frau anzusprechen, als im Internet.
Pro Woche hatte er manchmal fünf Dates. Glücklich machte es ihn nicht
Mit dem Umzug in eine neue Stadt wurde das Handy als Kanal in diese vielversprechende Welt der Matches umso wichtiger. Max war neu in einer Umgebung, deren Sprache er kaum sprach und in der er anfangs niemanden kannte. Es war diese Zeit, in der er durch Dating-Apps drei bis fünf verschiedene Frauen pro Woche traf, die ihn in unbekannte Bars und aufregende Jazzclubs mitnahmen. Oft hatte er zwar nachmittags schon gar keine Lust mehr, überhaupt noch mal das Haus zu verlassen und sich schon wieder auf eine neue Person einzustellen, sagte aber nie ein Date ab. Manchmal kam es zu Sex, manchmal wollte sie mehr, manchmal versandete der Kontakt nach dem ersten Date. Doch so richtig glücklich machte ihn nichts davon. Denn über oberflächliche Begegnungen und schnellen Sex gingen die Dates nie hinaus.
„Es ist wie mit dem Rauchen: Du merkst, dass es dir nicht wirklich gut tut, aber in diesem konkreten Moment schadet es auch nicht. Und du kannst einfach nicht damit aufhören“, erinnert sich Max. Immer mehr Zeit verbrachte er mit der Suche nach neuen Dates, dem Hin- und Herschreiben bis zum tatsächlichen Treffen.
„Kaufhauseffekt“ nennt der Psychotherapeut den Mechanismus beim Online-Dating
Tatsächlich ist Max nicht allein mit diesem Gefühl. Cato Jans, der als Psychotherapeut und Paarberater in Hamburg arbeitet, bestätigt einen Trend: „Innerhalb der vergangenen zehn Jahre ist die Zahl der Datingsüchtigen gravierend gestiegen“, sagt er. Laut einer Statistik suchte im letzten Jahr jeder dritte Mensch in Deutschland online nach Beziehungen. Wie dabei Apps benutzt wurden und wie viele Menschen suchtähnliches Verhalten wie das von Max zeigen, geht aus der Studie nicht hervor.
Als süchtig bezeichnet Jans diejenigen, bei denen das exzessive Online-Dating ihre Alltagstauglichkeit zunehmend einschränkt und die dadurch immer mehr Frustration erfahren. Dieser Frust wird durch das nächste Date, das schon in realistischer Nähe ist, aber nicht gelöst, sondern verdrängt. Statt sich mit der Angst vorm Alleinsein oder der eigenen Bindungsangst auseinanderzusetzen, stelle sich ein „Kaufhauseffekt“ ein: Online-Dating suggeriert, dass es da draußen immer noch eine bessere Option gibt und dass es sich deshalb vielleicht gar nicht lohnt, Konflikte zu lösen und in längerfristige Beziehungen zu investieren. „Kurzzeitig ist das Daten ein schöner Strauß Blumen für das eigene Ego“, meint Jans. Auf lange Sicht lohne es sich aber, sich mit seinen eigenen Problemen auseinanderzusetzen.
Am Anfang genoss auch Max diese Bestätigung. Er konnte sich selbst ein maskulines Idealbild bestätigen, dass seine Freunde ihm im echten Leben niemals zuschreiben würden: Viele Frauen treffen, viel Sex, trotzdem unnahbar bleiben. „Man fühlt sich gewollt und das ist erstmal ein angenehmes Gefühl“, meint er. „Es war irgendwie ein schöner Stress, diese ganzen Dates zu koordinieren, ständig busy zu sein.“ Je weniger Zeit er allein verbringen musste, desto weniger Zeit blieb eben auch, sich allein zu fühlen. Besonders lange hielt er es ohne Tinder darum nie aus. Auch den Pakt mit der Fremden, die ihn gewarnt hatte, er werde die App sowieso wieder installieren, brach er bald. „Gerade wenn man sich schlecht fühlt, etwas nicht klappt oder du dich einsam fühlst, kommst du wieder zurück und denkst dir: Warum nicht mal wieder ein bisschen schreiben, vielleicht jemanden treffen?“ Nach einer Woche Deinstallation waren OkCupid und Tinder wieder feste Bestandteile seiner Alltagsroutine.
„Es ist typisch für Datingsüchtige, sich dieses Suchtverhalten erstmal nicht einzugestehen“, meint der Psychotherapeut Jans. „Dabei kann es sehr helfen, den Konsum konsequent einzuschränken, um wieder einen normalen Umgang mit den Apps zu entwickeln.“ Das Erreichen dieser Bestätigung frisst nämlich insbesondere bei Männern enorm viel Zeit. Die müssen, wenn sie äußerlich nicht dem überdurchschnittlichen Idealbild eines Adonis entsprechen, laut eines Versuchs nämlich viel, viel länger suchen als Frauen, damit ein Match zustande kommt. In Therapien bestärkt Jans deshalb seine Klienten, sich mit ihrer eigenen Beziehungskultur aktiv auseinanderzusetzen und zu lernen, mit dem Ausfall der schnellen Bestätigung umzugehen und dafür wieder mehr Zeit für sich und andere Aktivitäten zu haben.
Auch Max gesteht, dass er durch Apps sowohl wahnsinnig interessante wie absurd langweilige Dates hatte – dass die wirklich aufregenden Geschichten sich aber immer analog angebahnt haben. Wenn er von der Frau erzählt, die ihn gerade begeistert und die er kürzlich in seiner Heimatstadt kennengelernt hat, ganz ohne Tinder und OkCupid, dann grinst er übers ganze Gesicht. Mit dem stereotypen Mann, der unnahbar ist, aber viel Sex mit vielen Frauen hat, hat dieser Max wenig zu tun. Er wirkt eher wie ein verknallter Schuljunge, der sehr lange nicht mehr auf sein Handy geschaut hat. Er hat sogar vergessen, den letzten offenen Dates auf OkCupid zurückzuschreiben.