- • Startseite
- • Liebe und Beziehung
-
•
Warum wir aufhören sollten, ständig an unseren Eltern herumzunörgeln
Ich bin mit meiner Mutter im Restaurant verabredet. Und zum tausendsten Mal, seit wir uns kennen, also in meinem Leben, findet sie den Weg zum Restaurant nicht. Weil sie nie vorher nachschaut, wo sie hinmuss. Ein Überbleibsel aus ihrer unselbstständigen Lebensmitte, als sie ihren Mann alles machen ließ. Heute ist er ihr Ex-Mann und immer noch mein Vater, der im Gegenzug immer, immer ganz genau zu wissen glaubt, wo es langgeht, dabei natürlich trotzdem manchmal falsch liegt, und dann böse wird, auf sich und alle Anwesenden. Über beide könnte ich mich noch Jahre, ach was, Jahrhunderte ärgern, besonders jetzt, unterzuckert und hungrig, vor dem Restaurant wartend.
Entschuldigung, lieber Leser, diese Szene und die geschilderten Schwächen habe ich erfunden, um meine Eltern zu schützen. Sie sind ein Remix dessen, was an Eltern so beklagt wird. Von meinen Freunden, Bekannten, Kollegen. Jeder von uns, da wette ich mein bescheidenes Erbe, hat genug solcher Szenen auf Lager. Alle Eltern haben von kleinen Marotten bis hin zu charakterlichen Mängeln genug, um ihre Kinder endlos zu quälen. Denn sie sind Menschen. Ihnen diese aber zu verzeihen fällt uns ungleich schwerer als unseren Lebenspartnerinnen oder Haustieren. Warum eigentlich? Kann es sein, dass wir nur Angst vor der Leere haben, die hinter dem Nörgeln lauert? Weil uns diese so wichtigen Menschen dann gleichgültig werden?
Fangen wir ganz vorne an. Alles hängt natürlich mit unserer gemeinsamen Geschichte und dem Kräfteverhältnis zusammen, welches sich über die Jahrzehnte des Kindsein verschiebt. Wir starten als hilflose Wesen, deren Existenz von Wohlwollen und Kompetenz der Eltern abhängt. Benjamin von Stuckrad-Barre über das Vatersein: „Die ersten zwei Jahre geht es nur darum, dass das Kind nicht stirbt.“
Danach kommt eine lange Phase der Erziehung, in der das Kind fast genau so abhängig ist von seinen Eltern, die wiederum übermächtig erscheinen – körperlich, emotional, juristisch. Trotzphasen bestätigen die Regel: Die Eltern sind die Chefs. Die narzisstische Kränkung, der schwächere Mensch gewesen zu sein, immer von diesen Menschen beeinflusst, eben nicht frei zu sein – vielleicht legt man sie niemals ab.
Erst als Teenager gelingen Autonomie-Erfolge. Kiffen und Kotzen und Ficken dienen als Mittel, den Eltern und der Welt möglichst deutlich zu zeigen, dass sie einem nix mehr zu sagen haben. Irgendwann ist man entgegen aller Prognosen tatsächlich volljährig geworden und mindestens juristisch reif, sich von den Eltern endgültig zu lösen. Aber es ist eine Illusion, dass damit alles vorbei wäre.
In den Zwanzigern bringen die ersten wirklich ernsthaften Versuche, auf Augenhöhe zu kommen, ganz neue Konflikte. Denn jetzt kann man einander gegenseitig kritisieren. Wer überhaupt darf sich (noch) in wessen Leben einmischen, und wenn ja, wie genau? Wissenschaftler der Uni Michigan befragten 474 Familien und fanden heraus, dass Eltern vor allem der Lebensstil der Kinder stört: wie ihre Kinder mit Geld umgehen und ihren Haushalt führen. Die Eltern äußerten in der Befragung außerdem immer wieder, dass es ihnen schwerfalle, ihren Nachwuchs loszulassen. Und die Kinder beklagten sich, dass ihre Eltern sich ständig in ihre Leben einmischten und ungefragt Ratschläge erteilten. Beide schaffen die Autonomie also nur auf dem Papier.
Heute bin ich so alt wie mein Vater, als ich geboren wurde – und langsam schaffe ich es, ihn entspannter zu sehen
Für den Psychologen Oskar Holzberg müssen Eltern mit ihrer „Tyrannei der Intimität“ aufhören, mit diesem „viel zu großen Kinderkult, die oft panische Überbewertung jeder Eigenbewegung, die daraus resultiert, dass fatalerweise nur eine enge Beziehung zu unseren Kindern als gut gelebtes, verwirklichtes Leben gilt.“ Andererseits haben viele Kinder Angst, als undankbar zu gelten, wenn sie ihren Eltern nicht viel Aufmerksamkeit schenken, nicht versuchen nahe zu bleiben, obwohl ihre Leben sich von ihnen wegentwickeln. „Warum wir unseren Eltern nichts schulden“ hieß jüngst ein Bestseller von Barbara Bleisch. Er wäre kein Bestseller, wenn sich da alle einig wären.
So aneinander geklammert müssen wir uns mit jedem Jahr mehr eingestehen, dass wir unserem genetischen und sozialen Erbe nicht entfliehen können. Da versucht man ein Leben lang, die guten geerbten Eigenschaften zu stärken, die nicht so guten zu unterdrücken. An den Eltern zu sehen, dass die nicht so guten auch im Alter nicht mehr verschwinden, kann niederschmetternd sein. Es ist die nächste narzisstische Kränkung: Zu sehen, dass der andere sich trotz allem nicht mehr ändert, nicht hört, nicht spurt. Und dass man vermutlich genauso werden wird.
Heute bin ich so alt wie mein Vater, als ich geboren wurde. Und erst langsam schaffe ich es, ihn entspannter zu sehen. Soll er doch den Weg immer wissen wollen und meine Mutter nie. Wer bin ich, ihnen vorzuhalten, was sie ihr Leben lang schon tun? Und bin ich nicht auch ein Bündel an Schwächen, die Hälfte davon von ihnen übernommen?
Wir neigen dazu, unsere Eltern lebenslang als eine Art ultimativen Halt wahrzunehmen. Und bleiben dabei ewige Kinder. Eltern aber haben Stärken und Schwächen, gute und schlechte Tage, können mal verletzt sein oder verletzende Dinge sagen. Um wirklich auf Augenhöhe zu kommen, brauchen wir Toleranz, Gelassenheit und vielleicht auch Gleichgültigkeit. Auch wenn letztere Angst macht.
Denn davor fürchten wir uns doch alle: dass man sich gar nichts mehr zu sagen hat. Dass man erkennen muss, dass man zwar für immer zusammengehört, sich eigentlich aber auch ein bisschen egal ist. Hinter dem Nörgeln lauert in vielen Eltern-Kind-Beziehungen die Leere. Wer sich nicht mehr gegenseitig zu korrigieren versucht, hat viel weniger zu reden. Und so wird Kritik oft genug, gerade wenn es um Kleinigkeiten geht, als Katalysator für emotionale Intensität missbraucht. Reibung erzeugt Hitze, und wir haben Angst zu frieren. Dieser Angst müssen wir uns stellen. Eltern wie Kinder. Herausfinden, worüber es sich wirklich miteinander zu streiten lohnt. Und worüber nicht. Der französische Philosoph André Comte-Sponville sagte einmal: „Glücklich sind die Kinder, die sich mit ihren Eltern versöhnen können.“ Und andersrum.