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Wie es war, mit polyamoren Eltern aufzuwachsen

Illustration: Janina Schmidt

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Ich muss etwa fünf Jahre alt gewesen sein, als ich auf den Rücksitz unseres Familienautos kletterte und dort eine fremde Frau saß. Wir brachen gerade in einen langen Urlaub auf. Ich war so lange okay mit der Anwesenheit der Fremden, bis ich merkte, dass sie nicht vorhatte, noch vor Ankunft am Ziel auszusteigen. Den Rest der Fahrt über lugte ich skeptisch zu ihr hinüber – immer in der Hoffnung, dass ihr nicht auffiele, dass mir auffiel, dass sie hier nicht hingehörte.

Die Fremde wurde schon bald weniger fremd. Ich gab ihr einen Spitznamen, ließ mich auf ihren Schultern durch die Gegend tragen und mir von ihr Klopapierblätter je nach Geschäfts-Größenordnung abzählen. Sie fuhr auch die nächsten Jahre noch in jeden Urlaub mit, tauchte oft bei uns zu Hause auf. Die Frau war feurig, aufgedreht und unabhängig. Sie war eine wilde Schönheit und damit ganz anders als meine stille Mutter – offiziell aber „ihre gute Freundin“. Ich schämte mich dafür, dass ich sie mochte.

Denn ich hatte das Gefühl, dass sie meiner Mutter etwas wegnahm. Während Mama uns Kinder bespaßte, verschwand Papa mit eben dieser Frau. Immer wieder. Mal nur für ein paar Stunden, mal für einen ganzen Tag. In diesem Punkt konnte ich mich beruhigen: Meine Mutter teilte eben die Hobbys der beiden nicht, dachte ich mir. Es war ein anderer Punkt, der mich irgendwann spüren ließ, dass mein Vater und sie sich für meinen Geschmack ein wenig zu nahe standen: Sie stritten. Sie stritten sich täglich und mindestens so schlimm wie er sich mit meiner Mutter stritt. Und das, so fand ich, zeugte doch von ungemeiner Intimität.

Dass die beiden tatsächlich ein Paar gewesen waren, wurde mir erst als junger Erwachsenen so richtig klar. Viele Jahre nach ihrer Trennung und viele weitere Frauen und Trennungen später. Ich habe immer damit gelebt, aber es lange nicht begriffen: Meine Eltern führten und führen eine offene Ehe. Sie leben polyamor. Zumindest einseitig.

Als ich Kind war, wurden offene Ehen geheimgehalten – heute sind sie in

„Polyamor“. Als ich Kind war, fand dieser Begriff noch wenig Verwendung, das Beziehungskonzept war verpönt und wurde geheim gelebt. Inzwischen ist das Wort zum It-Begriff mutiert. Eine offene Beziehung liegt jetzt im Trend, gilt vor allem unter jungen Menschen als Allheilmittel gegen Fremdgehen und Frust in der Beziehung. Viele wollen es mal ausprobieren – und ärgern sich dann, wenn es nicht hinhaut. Inzwischen kommt man sich schon ganz spießig und vertrocknet vor, wenn man es sich in seiner monogamen Beziehung bequem gemacht hat.

Ich finde das alles gar nicht besonders. Und wundere mich. Denn dass eine offene Beziehung ziemlich weh tun kann und die Auswirkungen nicht nur die Partner, sondern auch deren Kinder betreffen – darüber redet heute immer noch keiner.

In einer offenen Beziehung aufzuwachsen, ist gar nicht mal so angenehm – und extrem verwirrend, weil man als Kind eben noch nicht mit verschiedenen Beziehungskonzepten vertraut ist. Ich sage hier bewusst „in“ einer offenen Beziehung, obwohl ich selbst damals natürlich keine solche geführt habe. Als Kind bist du trotzdem mittendrin, machst alle Höhen und Tiefen der Eltern mit, die aus dieser Beziehungsform resultieren. 

Die offene Ehe meiner Eltern hat mir in gewisser Hinsicht den Vater genommen

Klar, meine Mutter war damit einverstanden, dass mein Vater eine Freundin hatte. Das heißt aber nicht, dass sie glücklich mit der offenen Ehe war. Denn Eifersucht ist etwas Menschliches. Ständig verglich sie sich mit den strahlenden Freundinnen meines Vaters. Das erzählt sie mir zumindest, wenn ich heute danach frage. Es musste, dachte sie, an ihr liegen, dass er etwas anderes brauchte. Ständig befand sie sich im Wettkampf mit Frauen, die meistens gleichzeitig auch ihre Freundinnen waren.

Und natürlich war sie neidisch auf die viele Zeit, die mein Vater mit seiner jeweiligen Freundin verbrachte. Nicht nur, weil sie selbst dadurch weniger Aufmerksamkeit bekam. Sondern auch stellvertretend für mich und meinen Bruder: Die Frauen meines Vaters waren oft spannender als wir. In gewisser Hinsicht hat uns die offene Ehe unserer Eltern den Vater genommen. Er kam immer erst spät nach Hause. Und in Gedanken war er meist mit seinem komplizierten Liebesleben beschäftigt.

Denn auch er hatte Probleme mit dem Konzept. Er brauchte die Freiheit zwar. Aber das alles kostete ihn auch etwas. Nicht nur die Zeit mit Kindern und Frau, sowie viele Nerven bei den Diskussionen darüber. Sondern auch Geld. Denn die Frauen wollten merken, dass sie nicht an zweiter Stelle standen. Also machte er ihnen Geschenke, ging mit ihnen Essen und unterstützte sie finanziell. Für sich selbst blieb ihm weniger. Für seine Kinder auch.

Die Auswirkungen der offenen Ehe meiner Eltern auf mich waren also in vielerlei Hinsicht gewaltig. Nicht nur, weil mein Vater selten Zeit und wenig Geld für mich hatte. Auch weil er immer wieder betonte, dass die Kinder seiner Freundinnen – wenn sie denn welche hatten – besonders toll waren. Mir immer wieder vorhielt, dass ich mir dies und jenes von ihnen abschauen müsste. Mein Selbstwert sank im ständigen Vergleich auf Null.

Ich fand außerdem, dass meine Mutter oft „ausgeschlossen“ und ungerecht behandelt wurde und grübelte immer wieder, wie ich sie in den Vordergrund rücken könnte – und wie die anderen Frauen loswerden.

Ich wusste gar nicht, gegen was ich da kämpfte 

Schon als Achtjährige bot ich ständig an, den Abwasch für meine Mutter zu machen, damit mein Vater mit ihr ausgehen könnte. Bei Spaziergängen hielt ich die Hand der jeweiligen Frau und lockte sie von meinen Eltern weg. Wenn mein Vater wieder mehr mit meiner Mutter spräche, dachte ich, vielleicht würde er dann merken, wie schön es war, Zeit mit ihr zu verbringen.

Das erste Gespräch zum Thema „offene Ehe“ fand statt, als ich zwölf war und schon die ganze Stadt über die Nebenbeziehungen meines Vaters tuschelte, mit denen meine Mutter einverstanden war. Meine Eltern befürchteten damals, ich würde das Ganze sonst von anderen erfahren. Nur deshalb wurden wir an den Esstisch gebeten, ohne dass es Essen gab. Nur deshalb würgte mein Vater den Satz hervor: „Ich habe eine Freundin.“

Danach sprudelte alles aus ihm heraus: „Und die Mama weiß davon, die kennt die auch schon lange. Und ihr habt sie auch schon ab und an im Büro gesehen. Das ist die Brigitte (Name geändert)...“ Danach zeigte er massenweise Bilder von ihr – zur Erinnerungsauffrischung – und erzählte von den Tücken der Geheimhaltung. Vor Kollegen, Verwandten, vor uns Kindern. Schließlich sollten wir bis dahin immer noch im Glauben geblieben sein, dass die Frauen für Mama und nicht für Papa bei uns wären. 

Der Tag der „Enthüllung“ war einer der besten meines Lebens

Während des Gesprächs lachte ich die ganze Zeit nur. Als ich alleine war, kamen mir die Tränen. Warum weiß ich nicht genau. Denn dieser Tag war, zumindest im Nachhinein betrachtet, einer der besten Tage meines Lebens. Endlich gab es ein bisschen Klarheit für mich. Ich hatte die Bestätigung für meine Ahnungen – und endlich einen Begriff dafür.

Alles, was vor der „Enthüllung“ passiert war, wurde aber auch danach nicht besprochen. Ich setze die Puzzleteile bis heute zusammen. Manchmal frage ich nach Frauen, die ich als Kind gesehen habe und die mir wieder einfallen. Auch sie stellen sich dann als ehemalige Partnerinnen heraus. Und natürlich dachte ich damals trotzdem noch länger darauf herum, ob das nun in Ordnung sei oder nicht, warum man mir nicht vorher etwas gesagt hatte, oder zumindest später ein wenig mehr als nur die groben Eckpunkte. Aber im Grunde überwog die Erleichterung, dass meine Mutter nicht hintergangen worden war. Sie selbst, das sagt sie mir auch heute immer wieder, hatte einfach nicht das Bedürfnis, ebenfalls einen anderen Partner zu haben. Sie widmete ihre Zeit lieber ihren Kindern als ihrem Liebesleben. Und als mein Vater sich über fehlende Zuneigung beklagte, schien die einfachste Lösung wohl die Öffnung der Ehe für andere Frauen.

Das Alles konnte ich Außenstehenden nie richtig anvertrauen. Kurz nach dem Gespräch mit meinen Eltern, versuchte ich es bei meiner besten Freundin, nennen wir sie Nina. Ich sagte ihr, dass mein Vater eine Freundin habe. Nina sagte: „Oh Gott, es tut mir so leid, dass sich deine Eltern scheiden lassen.“ Sie verstand nicht, dass sich meine Eltern nicht trennen wollten. Und auch nicht, dass ich nicht sauer, sondern vor allem verwirrt war. So ging es auch allen anderen Freunden, denen ich im Laufe der Jahre versucht habe, die Beziehung meiner Eltern zu erklären. Immer verlangten sie nach einem Lable: „Ich kapier's nicht: Sind deine Eltern jetzt getrennt oder zusammen?“

Meine Eltern erkennen ihre eigenen Grenzen inzwischen nicht mehr

Ich merke also: Auch heute noch versteht kaum einer, wie eine offene Ehe funktionieren kann – obwohl das Konzept doch gerade rauf und runter diskutiert wird. Ihre Freundinnen drängen meine Mutter, sich doch auch mal einen anderen Mann zu nehmen, entfernte Bekannte haben Mitleid mit ihr. Mein Vater, der im Gegensatz zu vielen anderen Männern ehrlich war mit seiner Ehefrau, wird als gewissenloser Fremdgeher abgestempelt.

Die Öffnung findet bis heute statt. Ein Problem dabei ist, dass meine Eltern ihre eigenen Grenzen mittlerweile nicht mehr so recht erkennen. Um seiner Freundin ein gutes Gefühl zu geben, verlangt mein Vater meiner Mutter mittlerweile mehr ab, als was sie zu ertragen bereit ist. Schon mehrmals wollte er neue Freundinnen plus Kinder in unserem Haus einziehen lassen. 

Für mich als Tochter bedeutet das alles, viel mehr in die Beziehungsangelegenheiten meiner Eltern involviert zu sein, als eigentlich normal ist. Ich begann schon mit zwölf – wenige Tage nach der Information über die Zweit-Beziehung – damit, mich der Sorgen der Freundinnen meines Vaters anzunehmen. Ich musste vor ihnen beteuern, dass das für uns alle schon okay sei. Heute versuche ich vor allem immer wieder, meiner wortkargen Mutter zu entlocken, wo denn nun ihre Grenzen sind. Damit ich die wiederum an die Frauen kommunizieren kann, die sich teils nicht mit ihr zu sprechen trauen.

Ich sehne mich danach, eine „normale“ Beziehung zu führen – schaffe es aber nicht

Inzwischen bin ich erwachsen. Und führe selbst Beziehungen. Dabei merke ich immer wieder, was die offene Beziehung meiner Eltern mit meinen eigenen Einstellungen in Liebesdingen gemacht hat. Denn eine wirklich „normale“, monogame Beziehung habe ich eigentlich noch nie zu führen geschafft.

Ich bin der festen Überzeugung, dass man mehrere Menschen gleichzeitig lieben kann. Ich habe es auch schon getan. Sogar, wenn ich in einer festen Zwei-Mensch-Beziehung war. Aber, genau wie meine Eltern, habe ich nie versucht, das zu verheimlichen. Ich habe meine Partner immer über meine Gefühle informiert, ihnen die Entscheidung überlassen, ob sie nun damit leben können, wenn ich nicht immer ganz bei ihnen bin.

Und trotzdem (fast hätte ich „absurderweise“ geschrieben) sehne ich mich nach der einen monogamen Beziehung, die auch ohne weitere Partner hält – und in der sich beide genügen. Ich glaube, dass das eigentlich auch meiner Mutter lieber gewesen wäre.

Ich bin also hin und her gerissen. Zwischen dem Bedürfnis nach Zweisamkeit und meinem angelernten „Wissen“, dass es wohl nie bei zwei Menschen bleiben kann. Ich akzeptiere deshalb sehr schnell, wenn mein Freund beschließt, andere Partner haben zu müssen. Auch, wenn er das schon eigenmächtig getan, also mich betrogen hat, zwinge ich mich immer wieder, Verständnis für seine Position aufzubringen. In meinem Unterbewusstsein ist verankert: Eine Beziehung darf nicht daran scheitern, dass der Partner auch noch andere Partner hat. Sogar dann nicht, wenn ich darunter leide.

* In diesem Text wurden viele persönliche Details aus den Leben verschiedener Personen verarbeitet. Details, die viele Menschen aus dem engeren Umfeld der Autorin noch immer nicht wissen und auch nicht wissen sollen oder wollen. Deshalb, und auch um die Privatsphäre aller Beteiligten zu schützen, möchte die Autorin anonym bleiben.

Der Text erschien erstmals am 1.2.2018 und wurde am 4.1.2020 aktualisiert.

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