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Tillie Walden über ihr Buch „Pirouetten“
Die 22-jährige Texanerin Tillie Walden hat eine Graphic Novel über ihre Zeit als Eiskunstläuferin veröffentlicht. Mit jetzt spricht die Autorin über ihr bisher persönlichstes Buch und darüber, warum Eiskunstlaufen schlimmer ist als andere Leistungssportarten.
jetzt: Du erzählst in „Pirouetten“ von deinem Coming Out, aber auch von dem Druck, der im Eiskunstlauf herrscht, und von einem sexuellen Übergriff. Wie schwierig war es, diese Momente zu Papier zu bringen?
Tillie Walden: Es war natürlich extrem schwierig. Es ist ja schon schwer, wenn man sich im echten Leben angreifbar macht. Und dann ist es noch etwas schwerer, wenn man sich in einem Buch verletzlich zeigt, das veröffentlicht wird. Deine Verletzlichkeit wird sozusagen verewigt. Ich musste mich während des Schreibens und Zeichnens immer wieder daran erinnern, dass ich das wirklich wollte. Natürlich gibt es immer Konsequenzen, wenn du eine Geschichte wie meine erzählst. Aber ich habe für mich beschlossen, dass ich niemals eine Entscheidung von Angst abhängig machen will. Ich wollte die Geschichte wirklich erzählen und mir war es auch wichtig, dass andere Menschen die Geschichte lesen können. Deswegen habe ich beschlossen, es einfach auszuprobieren und dabei so ehrlich und zurückhaltend wie möglich zu sein. Und bislang lief auch wirklich alles gut.
Im Buch geht es auch um deine erste große Liebe, Rae. Wie war es für dich, als du gemerkt hast, du fühlst dich zu Frauen hingezogen?
Rae und ich sind heute wieder befreundet, das freut mich natürlich sehr. Sie verfolgt meine Arbeit und ich habe unsere Beziehung noch in einem anderen Buch verarbeitet, deswegen nimmt das in "Pirouetten" nicht so viel Raum ein. Aber es gibt im Buch eine Stelle, da beschreibe ich, wie ich während der Schule immer das Gefühl hatte, nur so durchzurutschen und gerade so meine Prüfungen zu bestehen. Bestanden, bestanden, bestanden, es ging immer so weiter. Und das funktioniert auch als Metapher zu meiner Sexualität: Ich bin immer geradeso als heterosexuell durchgegangen. Aber wohl habe ich mich dabei natürlich nicht gefühlt.
Wie haben die Leser auf dieses Thema reagiert?
Natürlich habe ich viele Rekationen von jungen Menschen erhalten, die mir geschrieben haben, dass sie schwul oder lesbisch oder trans sind, und dass das niemand wisse. Viele Teenager haben sich mir gegenüber – einer Person, die sie gar nicht kennen – das erste Mal geoutet, das ist schon sehr emotional. Aber ich habe auch sehr gefühlvolle Rückmeldungen von Eltern bekommen, die schwule oder lesbische Kinder haben. Eine Mutter schrieb mir, ihre Tochter sei lesbisch, sie sei 13 Jahre alt, und sie als Mutter habe wirklich Probleme mit ihr. Das Buch habe ihr geholfen, sie besser zu verstehen. Negative Rückmeldungen gab es bis jetzt keine. Ich glaube, das liegt daran, dass jeder, der das Buch in die Hand nimmt, recht schnell kapiert, worum es geht. Und Menschen, die die Geschichte einer lesbischen Eiskunstläuferin nicht lesen wollen, lesen es halt nicht.
Galubst du, Eiskunstlauf ist schlimmer als andere Leistungssportarten?
Eiskunstlauf ist auf seine Weise schon einzigartig. Klar gibt es viele Gemeinsamkeiten zu anderen Leistungssportarten, zum Beispiel zu Leichtathletik. Aber Eiskunstlauf ist besonders schräg. Es ist eine der wenigen Sportarten, die zugleich Sport und Schönheitswettbewerb sind. Ohne Grund, außer dass halt irgendein Typ irgendwann mal gesagt hat: „Hey, lass sie uns doch hübsch anziehen und auch noch beurteilen, wie sie aussehen – und dann obendrauf noch, wie gut sie sind.“ Was noch bizarr ist am Eiskunstlaufen: Es ist eine der wenigen Wintersportarten, wo du dich nicht anziehen darfst, als wäre es Winter. Eiskunstlauf ist ein kalter Sport. Und trotzdem musst du meistens ohne Unterwäsche und in Röcken aufs Eis. Es ist für mich das Dümmste überhaupt.
Weil es so oberflächlich ist?
Ja, Eiskunstläufer dürfen sich nicht so anziehen, dass es bequem für sie ist, sondern nur so, dass man ihre Muskeln sieht und ihre Beine und ihre Bäuche. Erst seit ganz kurzer Zeit dürfen Eiskunstläufer Hosen tragen. Es ist total absurd – wie auch die Debatte darum, was Serena Williams auf dem Tennisplatz trägt. Ich hasse es, dass Menschen denken, ihre Meinung über das, was du beim Sport anhast und wie du aussiehst, würde etwas zählen. Vergessen die, dass es ein Sport ist, und dass du da bist, um Leistung zu bringen? Sportler sollten tragen dürfen, was sie wollen, und nicht nach ihrem Lippenstift beurteilt werden.
Ein Trainer sagte zu mir: „Wenn du deine Brille trägst, sehen die Preisrichter deinen Lidschatten ja gar nicht“
Was hat dich daran besonders genervt?
Ich weiß noch, wie sehr ich mich durchsetzen musste, um meine Brille zu behalten und nicht auf Kontaktlinsen umzusteigen. Ich habe immer wieder gesagt: „Ich will meine Brille behalten, ich werde keine Kontaktlinsen tragen.“ Und ich hatte Trainer, die zu mir gesagt haben: „Aber dann sehen die Preisrichter deinen Lidschatten ja gar nicht!“ Und ich dachte: „Sollen sie nicht lieber schauen, wie ich meine Figuren mache?“ Die Idee von einer Eiskunstläuferin ist immer noch angepasst an ein Frauenbild aus den Fünfzigerjahren: Eine schön Frau ist eine Frau mit langen Beinen und einem Dutt. Aber es ist 2018, wie kann das sein?
Gibst du deinen Eltern die Schuld an deinem Hass aufs Eiskunstlaufen ?
Nein. Ich habe tatsächlich mit meiner Mutter das erste mal offen über unser Verhältnis zum Eiskunstlaufen gesprochen, als „Pirouetten“ herauskam. Und habe erst dann erfahren: Meine Eltern hassten das Eiskunstlaufen. Meine Mutter sagte, nachdem sie das Buch gelesen hatte: „Ich wollte doch da gar nicht sein.“ Sie erzählte mir, wie sie sich von den anderen Müttern isoliert gefühlt hatte. Und ich sagte: „Ich fühlte mich isoliert von den anderen Mädchen! Ich wollte auch nicht da sein.“ Es war eine dieser Situationen, in denen du kapierst, dass du und deine Eltern eigentlich komplett einer Meinung seid, aber dass es halt verdammt noch mal niemand angesprochen hat.
Heranwachsen ist so verdammt hart – und es ist noch viel schwieriger, das den Eltern begreiflich zu machen
Deine Eltern kommen in deinem Buch trotzdem nicht so gut weg.
Aber das ist wirklich nur, weil Teenager und Eltern sich selten gut verstehen. Ich stehe meinen Eltern sehr nahe, sie unterstützen mich als Künstlerin und sie sind ein wichtiger Teil meines Lebens. Aber Heranwachsen ist so verdammt hart und es ist noch viel schwieriger, das deinen Eltern irgendwie begreiflich zu machen. Ich konnte meinen Eltern auch bis nach der Veröfentlichung des Buches nicht sagen, wie hart meine Jugend und das Eiskunstlaufen für mich war. Ich hatte das Gefühl, ich muss es zeichnen und erstmal selbst verarbeiten.
Hattest du Angst vor den Reaktionen deiner Eltern?
Die Menschen sind immer verblüfft, wenn ich sage, dass ich meinen Eltern nahe stehe und trotzdem solche Erinnerungen aufschreibe. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass Ehrlichkeit die Menschen immer eher zusammenbringt. Ich wollte, dass meine Eltern mich so sehen, wie ich wirklich bin, ich wollte mit ihnen darüber sprechen, wie ich mich gefühlt habe. Und das hat funktioniert. Ich kenne mich – wenn ich das vorher angesprochen hätte, wäre das Buch nicht so geworden, wie es jetzt ist. Ich will immer allen gefallen. Und bei diesem Buch wollte ich einmal egoistisch sein und mich selbst an erste Stelle rücken. Also habe ich beschlossen, mir keine Sorgen zu machen darüber, was andere Menschen denken. Bei den sensiblen Dingen habe ich natürlich die Namen geändert oder Details.
Das Buch ist in violett und gelb gehalten, anstatt in bunt oder in schwarz-weiß. Warum?
Das Kleid, in dem ich am meisten auf dem Eis war, war violett und gold und ich habe diese Farben mit dem Eislaufen verbunden. Und als ich mich auf Farben festlegen musste, erinnerte ich mich an das Kleid. Ich habe es wirklich gehasst, von ganzem Herzen. Aber ich habe die Farben auf einer Seite ausprobiert und dachte, „Oh, das ist es ja.“ Das Gelb ist nur ganz wenig eingesetzt, weil vor allem in der Kindheit und Jugend Momente von Glück und Liebe, die ich gelb färben wollte, nur ganz selten und weit verstreut sein können. Ich wollte das mit reinbringen, denn wir haben sehr viele Erinnerungen an unsere Kindheit, die überhaupt nicht zusammenpassen.
Als ich nicht um vier Uhr morgens aufwachte, sondern um acht, wusste ich: Ich kann leben.
Hat dich jemals etwas wieder so sehr erleichtert wie der Moment, in dem du nicht mehr Eiskunstlaufen musstest?
Ich habe tatsächlich nie wieder eine ähnliche Erleichterung verspürt als damals. Nichts in meinem Leben kam an dieses Gefühl ran, wie das, das ich hatte, als ich mit dem Sport aufgehört habe. Es war, als würde ich mich selbst verlassen, denn Eiskunstlauf war seit zwölf Jahren mein ganzes Leben gewesen. Ich erinnere mich, dass ich am nächsten Morgen dachte: Wow, ich kann ja ausschlafen. Ich wachte nicht um vier Uhr in der Früh auf, sondern um acht. Da wusste ich: Ich kann leben. Ich kann existieren, ohne dass Menschen mich beurteilen und ich kann herausfinden, wer ich bin und was ich tun will. Bis jetzt war das echt der krasseste Moment in meinem Leben. Frag mich nochmal, wenn ich geheiratet habe oder ein Kind habe, aber bis dahin war das auf jeden Fall der heftigste Moment.
Eiskunstlaufen ist für dich vorbei, oder?
Es kann schon sein, dass ich irgendwann wieder aufs Eis gehe, aber das muss dann zu meinen eigenen Bedingungen passieren. Es ist toll, auf dem Eis zu sein, denn es gibt nichts anderes im Leben, wo du dich so schnell und frei bewegen kannst, es ist wunderbar. Ich glaube, ich will auch wieder irgendwann eislaufen, aber ich werde es nicht mehr professionell tun.
Lebst du noch in Texas?
Nein, Texas ist wirklich sehr konservativ und verrückt und es war Zeit für mich, rauszukommen. Ich freue mich, nicht mehr in Texas zu sein. Aber meine Familie lebt dort, die ich sehr liebe und bei der ich oft bin. Ich hege keinen Groll gegen Texas. Ich mag den Staat trotz seiner Fehler. Aber man muss auch sagen: Als 22-jährige Lesbe macht es viel mehr Spaß in Los Angeles zu leben als irgendwo in Texas.