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Der Hochstapler: Tom war verliebt in einen Betrüger
Zum ersten Mal seit vier Jahren sieht Tom wieder klar. Die Ordner mit den Beweisen hat er noch schnell an einen sicheren Ort gebracht. Dann packt er ein paar Klamotten in eine Reisetasche, schließt alle Fenster und gießt die Pflanzen. Bevor er die Haustür zuzieht, tippt er noch eine Nachricht in sein Handy: „Liebe Freunde, ich muss Euch darüber informieren, dass Sebastian (wenn das sein richtiger Name ist), mit dem ich vier Jahre lang zusammen war, ein gesuchter Verbrecher und Betrüger ist.“
Seine Familie weiß es schon, aber Tom* will auch seine Freundinnen und Freunde vor seinem Ex warnen. Nichts von dem, was er von Sebastian* zu wissen glaubte, stimmt. Vier Jahre lang hat er einen Mann geliebt, den er überhaupt nicht kannte. Weil es ihn so gar nicht gab. Er hat ihn mit perfiden Tricks und Manipulationen um zigtausend Euro betrogen. Tom schließt die Tür ab und macht sich auf den Weg in die Psychiatrie. Der Tag, an dem er wieder klar sieht, ist auch der Tag, an dem er einfach nicht mehr kann.
Wenn er sich heute erinnern soll, kann Tom nur noch die ersten und die letzten Monate klar rekonstruieren. Alles dazwischen ist ein einziges Chaos aus kleinen Merkwürdigkeiten und wachsenden Schockzuständen.
Plötzlich und unerwartet steht Sebastian einfach vor ihm, an dem Abend, an dem sie sich kennenlernen. Touren durch die Schwulenbars sind nicht Toms Sache, aber Jana, eine lesbische Freundin, schleift ihn mit. Und sie spielt Wingwoman als Entschädigung. Tom ist schüchtern, Sebastian tigert schon länger um ihn herum, sie stellt die beiden einander vor. Augenblicke später knutschen sie. Morgens um halb fünf ist nicht die Zeit für verschwenderisches Gebalze.
Am nächsten Mittag wachen sie bei Tom auf. Sebastian gesteht: „Du bist mir schon in einer anderen Bar aufgefallen, ich bin dir den halben Abend durch die Läden gefolgt.“ Sie haben eine weitere gemeinsame Nacht. „Er blieb einfach und war jeden Abend bei mir“, sagt Tom. Er mag Sebastians wache Augen, die manchmal so herzzerreißend traurig wirken. Und seinen wilden Vollbart, der zwar schon ganz schön grau für einen angeblich 33-Jährigen ist – aber eben auch sehr sexy. „Vier Wochen nach unserer ersten Nacht habe ich meinen Eltern den ersten Mann in meinem Leben vorgestellt.“
Tom ist in der Provinz aufgewachsen. In einer Kleinstadt, in der ein Mann, der auf Männer steht, selbst in der Familie oft noch der arme, kranke Sonderling ist. Aber beim Grillen im Garten wickelt Sebastian Toms Eltern um den Finger. „Wer hat denn diesen fantastischen Nudelsalat gemacht?“, fragt Sebastian. Als ein Freund von Tom mit „Deine Schwiegermutter“ antwortet, lächelt Sebastian sie kokett an. Und sie lächelt herzlich zurück.
Heute weiß Tom, dass Sebastian jede Menge offiziell wirkende Briefe fingiert hat
Auch ihre Lebensentwürfe passen zusammen, findet Tom. Er selbst hat einen Halbtagsjob in einer Werbeagentur, modelt und schauspielert in der Restzeit und arbeitet an einer Gesangskarriere. Sebastian ist ebenfalls unabhängig – und sehr erfolgreich. Aufstrebender Rechtsanwalt, eigene Kanzlei, Spezialgebiet Scheidungs- und Kinderrecht. Nach drei Monaten kann Sebastian sein juristisches Fachwissen für Tom einsetzen. Ein Stadttheater sagt Tom das Engagement ab – am Tag vor Probenbeginn. Tom hat die Koffer schon gepackt und ein Zimmer gebucht. „Dagegen kann man vorgehen“, sagt Sebastian. Er ruft seine angebliche Bürovorsteherin an und diktiert in herrischem Ton ein Schreiben. Am Amtsgericht sitzt er Monate später in Robe neben Tom. Der Fall geht verloren, aber Tom ist froh, dass Sebastian für ihn kämpft: „Im Nachhinein betrachtet war er in der Verhandlung merkwürdig still. Aber ich war einfach froh, mich mit diesem Papierkram nicht auseinandersetzen zu müssen.“ Denn neben Büro-, Schauspiel- und Modeljobs hat Tom auch noch ein Studium angefangen.
Sebastian produziert auch nicht nur Misserfolge. Im Winter 2013 hat Tom eine Schadensersatzforderung im Briefkasten. Eine Kanzlei will 25 000 Euro wegen eines illegal gestreamten Films, den die beiden zusammen geschaut haben. Damals ist er froh, dass er „nur“ je 1300 Euro Einigungsgebühr an Sebastian und die gegnerische Kanzlei überweisen soll. Heute weiß Tom, dass Sebastian den Brief fingiert hat. „Wie alle Schreiben, die er mir jemals vorgelegt hat.“ Die Kanzlei gibt es – den Anwalt, der unterschrieben hat, nicht. Sebastian ist ein Meister darin, seine Betrügereien unter fremde Briefköpfe zu setzen. Und Tom hat Sebastian zwei Mal bezahlt.
Tom ist zu diesem Zeitpunkt sehr verliebt und lässt sich immer weiter einlullen. Vor allem von den kleinen Zetteln, die oft auf Laptop oder Küchentisch kleben, wenn er nach Hause kommt. „Mein liebster Sonnenschein, wie war Dein Tag?“, steht darauf. Sebastian schickt Tom über die Jahre einen ganzen Schuhkarton voller Liebesbriefe, obwohl sie sich jede Woche mehrmals sehen. Wenn sie ins Restaurant gehen, zahlt Sebastian oft die Rechnung. Kein Wunder, bei seinem Erfolg. Seine Doktorarbeit sei in einem Gesetz aufgegangen, erzählt Sebastian nach einem halben Jahr: „Ich kriege das Bundesverdienstkreuz!“ Die Verleihung wird zwar „kurzfristig verschoben“, sodass Tom nicht dabei sein kann. Aber bei einer Hochzeit im Freundeskreis trägt Sebastian die kleine Anstecknadel am Anzug. Mit solchen Stunts überzeugt Sebastian irgendwann selbst Toms Freundinnen und Freunde, die anfangs skeptisch sind. Wer käme schon auf die Idee, dass sich Toms neuer Freund aus reiner Geltungssucht ein Verdienstkreuz im Internet kauft?
Das erste Misstrauen kommt bei Tom erst nach fast drei Jahren
Freundinnen oder Freunde von Sebastian lernt Tom keine kennen. Sebastian sagt: „Du bist alles, was ich hab, Tom.“ Mit den Kolleginnen und Kollegen in seiner Kanzlei wolle er außerhalb der Arbeit nicht auch noch zu tun haben. Also gehen sie mit Toms Bekannten ins Theater, grillen im Park oder treffen sich bei Tom. Sebastian sitzt oft mit Akten in Toms Wohnzimmer, diktiert ins Handy. Er spielt Theater. Keiner von Toms Freundinnen und Freunden ist im juristischen Bereich tätig, sie sind beeindruckt von seiner Geschäftigkeit und mit wie viel Begeisterung er davon redet. Wenn es Tom allzu prahlerisch wird, versucht er ein anderes Thema als die Arbeit vorzuschlagen. Sebastian reagiert dünnhäutig: „Ich muss mich nicht verstecken“, rechtfertigt er sich. Das habe er schon vor seinen Eltern machen müssen, die ihn verstoßen hätten, weil er studieren wollte. Tom hat Mitleid mit dem Star-Anwalt, der ihm dann so verletzlich scheint: „Nach Konflikten hat er bei mir permanent den Knopf gedrückt: ‚Ich hab keine Familie, keine Freunde. Ich liebe Dich über alles und wenn Du mich mal verlassen solltest, bringe ich mich um.’“
Umgekehrt braucht auch Tom jetzt Sebastians Hilfe. Er kriegt öfter Post oder Anrufe, die er sich nicht erklären kann. So ruft ihn sein langjähriger Bankberater an wegen eines Schufa-Eintrags. Tom soll Mobilfunkgebühren nicht gezahlt haben. Dabei weiß er weder von einem Vertrag bei dem Unternehmen, noch hat er jemals sein Konto überzogen. Sebastian kümmert sich. Der Schufa-Eintrag ist nach wenigen Tagen wieder gelöscht, weitere Mahnungen bleiben aus. Tom weiß bis heute nicht, wie Sebastian das gemacht hat.
Was ist echt, was ist Maske? Tom kommt lange nicht hinter Sebastians Spiel.
Das erste Misstrauen kommt bei Tom erst nach fast drei Jahren – aber in einem ganz anderen Zusammenhang. Beim Filmschauen liegt Sebastians Handy auf dem Couchtisch. Eine Nachricht erscheint auf dem Display: „Deiner ist aber auch ganz schön groß!“ Dahinter ein Auberginen-Emoji. Tom will wissen, wer das war. Aber Sebastian schnauzt ihn nur an: „Du Idiot hast Dich verlesen! Ein Kollege hat mich für ein Plädoyer gelobt.“ Und er weiß, wie er Tom verunsichern kann: „Diese ständige Konzentrationsschwäche – das kenn ich von Frau Pirna. Vielleicht hast du auch Frühdemenz wie sie.“ Frau Pirna ist eine ältere Frau, für deren Betreuung Sebastian angeblich vom Amtsgericht bestellt ist. Und Tom macht sich wirklich Sorgen, ob er geistig auf der Höhe ist. Er fühlt sich oft erschöpft, ständig hetzt er aus dem Büro, um abends noch im Studio Aufnahmen für sein Album einzusingen.
Ein bisschen Restvertrauen hat Tom aber noch in seine Wahrnehmung. Er will Sebastian testen und legt sich ein Fake-Profil auf einer Sexdate-Plattform an. Sofort findet er seinen festen Freund als aktiven Teilnehmer. Sonntagsmorgens stellt sich Tom schlafend, hält das Handy unter der Decke und schreibt Sebastian als ‚Simon‘ unverblümt: „Ficken?“. Der willigt sofort ein und lügt Tom ins Gesicht: „Ich muss nochmal ins Büro.“ „Am Sonntag?“ „Ja, am Sonntag.“ Tom lässt ihn gehen, nur um ihn am Treffpunkt zu empfangen und auffliegen zu lassen. „Dieses entgeisterte Gesicht habe ich später noch ein paar Mal gesehen. Wenn ich ihn mit seinen unabweisbaren Lügen konfrontiert habe“, sagt Tom. „Aber damals war das für mich neu.“ Und Tom ist gerade viel zu wütend wegen des Liebesverrats, um bereits das große Ganze in Frage zu stellen.
In Hollywood-Filmen wäre das sicher die Wende. „Aber ich war wie auf Autopilot“, sagt Tom
Nach einer Woche Funkstille treffen sie sich in einem Café. Sebastian gibt sich demütig, schiebt ihm den Wohnungsschlüssel hin und sein Testament, in dem er ihn als Erbe eingesetzt habe. Tom ist das zu melodramatisch. Er will lieber Erklärungen. Schließlich haben sie über Heiraten geredet. Und eine Krise nach drei Jahren, das kann doch passieren. Also reden sie lange und Tom gibt Sebastian noch eine Chance. Sie wollen in Zukunft offener miteinander umgehen. Doch dann übernachtet ein guter Freund der beiden bei Tom, den sie länger nicht gesehen haben. Kreidebleich kommt er morgens aus der Dusche und sagt: „Da sind HIV-Medikamente im Bad. Warum habt ihr mir das nie erzählt? Wir sind doch befreundet!“ Sebastian spielt es runter: „So ein Quatsch! Das sind Tabletten gegen meine Laktose-Intoleranz.“ Dann komplimentiert er ihn aus der Wohnung. Aber Tom wird trotzdem misstrauisch. Etwa ab diesem Zeitpunkt ist für ihn alles nur noch wie ein einziger langer Fiebertraum. Als er allein ist, googelt er das Medikament und stellt fest: Der Freund hatte Recht. Am Tag darauf: Konfrontation auf der Bahnfahrt zu Toms Eltern. „Was sind das für Tabletten?“ Sebastian zeigt wieder dieses entgeisterte Gesicht. Dann kommen die Ausflüchte – und sein Zusammenbruch. Ja, er sei HIV-positiv. Es tue ihm so leid, er habe Angst gehabt, von Tom verlassen zu werden. Tom stolpert an irgendeinem Provinzbahnhof aus dem Zug, um auf die Gleise zu kotzen.
In Hollywood-Filmen wäre das sicher die Wende. Der Moment, in dem Tom alles klar wird. „Aber ich war wie auf Autopilot“, sagt Tom. Am Wochenende spielt er heile Pärchenwelt bei den Eltern, montags macht er einen HIV-Test. Er hat sich nicht angesteckt, auch weil Sebastian die Medikamente regelmäßig genommen hat und sie die Viruslast stark verringern. Sex will Tom trotzdem nicht mehr mit Sebastian. Aber trennen kann er sich auch noch nicht. Er braucht doch seinen Partner, denkt er, denn er steht kurz vor dem Burnout: Büro, Studium, Schauspielerei, Fernsehauftritte mit der Single – immer öfter hat er Ermüdungserscheinungen. Und Angstattacken. Panik davor, nichts auf die Reihe zu kriegen, weil Sebastian ihn immer wieder runtermacht: „Du mit deinem Gemischtwarenladen an Jobs. Da weiß doch keiner, woran er ist. Entscheide dich mal für EINE Karriere, so wie ich!“ Ein paar Stunden später ist er wieder fürsorglich: „Meine Kollegen finden deine neue Single super. Die lief heute auf der Arbeit in Dauerschleife.“ Dieses ständige Hin und Her macht Tom fertig. Er schläft nur noch sehr wenig – wälzt sich die halbe Nacht im Bett herum. Als wolle Toms Körper ihn so lange bei Bewusstsein halten, bis er endlich draufkommt, was hier wirklich läuft.
Stattdessen beginnt er eine Therapie wegen der Angstzustände und denkt den Gedanken noch nicht, dass er Spielball eines skrupellosen Betrügers ist. „Vier Jahre und jedes einzelne Wort gelogen, das ist eine lange Zeit der Manipulation“, sagt Tom. „Ich hab ihm vielleicht am Ende nicht mehr alles sofort geglaubt, aber ich habe es immer noch geschluckt, wenn er mir angebliche Beweise für irgendwas vorgelegt hat.“ Doch Toms Familie wird langsam misstrauisch. Weil sie merkt, wie zurückgezogen und verunsichert der sonst aufgeschlossene und herzliche Tom geworden ist. Und wie wenig er sich noch auf seine Wahrnehmung verlässt. Das ist typisch für Menschen, die unter dem Einfluss von Gaslighting stehen. Darunter versteht man die Manipulation durch Menschen, die einem nahestehen. Dieser psychische Missbrauch kann soweit gehen, dass Opfer ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr trauen. Sie benötigen oft Anstöße von außen, um zu sehen: Ich bin nicht der Einzige, dem etwas komisch vorkommt. Dieser Anstoß kommt von Toms Onkel. Er hat Sebastian einen Fall übergeben, aber seit Monaten bewegt sich nichts und Sebastian hat immer neue Ausflüchte. Seit ein paar Monaten behauptet er, dass er bald an den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg berufen werde. Der Onkel recherchiert und zwingt Tom seinen Besuch auf. „Warum sagt mir die Pressestelle des EuGH, dass man dort keinen Sebastian Wiesner kennt?“ Tom fährt zu dem Anwaltsbüro, durch das ihn Sebastian noch vor einem Jahr geführt hat. Dort will er ihn zur Rede stellen, aber das Büro existiert nicht mehr. Als sie sich abends treffen, geht Sebastian wieder zum Angriff über. „Dein Onkel hat zu viel Zeit, um auf dumme Gedanken zu kommen. Der ist ja auch schon alt.“
Sebastian reagiert immer wieder mit aggressiven Gegenangriffen.
Doch diesmal kämpft Tom richtig zurück. „Es sind immer die anderen, bei denen was nicht stimmt“, wirft er Sebastian vor. „Vielleicht kann dir ja deine Therapeutin helfen. Du bist doch der Kranke von uns“, spottet Sebastian. Aber Tom will sich nicht mehr runtermachen lassen. „Ich kann das nicht mehr!“, brüllt er und schmeißt ihn aus der Wohnung. „Ich fühlte mich plötzlich richtig erleichtert“, sagt Tom.
Es macht ihn rasend, wie viele Menschen sein Ex-Freund betrogen hat
Die Beziehung ist beendet, aber die Verstrickungen sind noch nicht gelöst. Die meisten sind noch nicht einmal aufgedeckt. Dafür braucht es einen letzten Anstoß von außen. Eines Tages ruft eine fremde Frau Tom an. Sebastian hat vor einem Jahr ein Dressurpferd gekauft und sich dafür 15 000 Euro von Tom geliehen. Damals hatte Sebastian ihm Schriftverkehr und Kontoauszüge gezeigt. „Daraus ging hervor, dass er sein Festgeldkonto gekündigt hat, das Geld aber erst in sechs Monaten kriege“, erzählt Tom. Die Frau am Telefon sagt: „Sebastian zahlt seine Stallmieten seit Monaten nicht.“ Und jetzt, nach vier Jahren, fängt Tom endlich an zu wühlen. Er schreibt angebliche Kolleginnen und Mandanten von Sebastian an, fragt nach Unregelmäßigkeiten. Er bekommt eine Flut von Antworten, alle mit ähnlichem Inhalt: Vorsicht vor diesem Betrüger! Sebastians ehemalige Büro-Vermieter haben ihn zwangsräumen lassen. Auch sein aktueller Vermieter sitzt auf zigtausend Euro Mietschulden und hat eine Räumungsklage angestrengt. Tom bekommt wieder Panikattacken. Aber er handelt, anstatt sich zu verkriechen. Er bringt die Ordner, in denen er die merkwürdigen Schreiben sammelt, aus seiner Wohnung in Sicherheit. Weil er glaubt, dass Sebastian seinen Schlüssel hat nachmachen lassen und Beweise sichern will. Dann stellt er Strafanzeige, schreibt eine Nachricht an seine Freunde und weist sich selbst in die Psychiatrie ein.
In der Klinik hält er es genau vier Tage aus. Die Beruhigungspillen können ihn nicht ablenken. Es macht ihn rasend, wie viele Menschen sein Ex-Freund betrogen hat. Und während Tom in der Anstalt sitzt, gaukelt draußen Sebastian den nächsten Leuten etwas vor. Er will ihn zur Strecke bringen und entlässt sich wieder. Wochenlang liefert er dem zuständigen Kommissar neue Beweise für Sebastians Betrügereien. Im Sommer 2017 erfährt er nach einem Anruf beim Staatsanwalt, dass es endlich einen Haftbefehl gegen Sebastian gibt. Eine Woche wartet Tom jeden Tag auf die Verhaftung. Als nach einer Woche noch nichts passiert ist, fährt er selbst zu Sebastians Wohnung. Vier Stunden steht er in einem Hauseingang gegenüber, dann geht endlich das Licht im Wohnzimmer an. Da ruft Tom die Polizei und fährt wieder. Sebastians Vermieter schreibt ihm am nächsten Morgen, dass Sebastian festgenommen wurde und in Untersuchungshaft sitzt.
Während Tom sich Sorgen macht, ob Sebastian sich in Haft vielleicht das Leben nehmen könnte, entlässt der Haftrichter Sebastian schon wieder. Es ist derselbe, der den Haftbefehl unterschrieben hat. Eine im Gericht gut vernetzte Quelle sagt, Sebastian habe einen beeindruckenden Vortrag bei der Anhörung hingelegt. Das Ergebnis: Haftverschonung gegen Meldeauflagen. Der Richter hält die Flucht- oder Verdunklungsgefahr für gering, aber Sebastian muss regelmäßig auf einer Polizeiwache erscheinen. Tom kann das nur schlecht akzeptieren, er will Sebastian so schnell wie möglich bestraft sehen. Noch heute bekommt er regelmäßig Inkasso-Forderungen – für Büromaschinen, Mobilfunkverträge oder Flugtickets, die Sebastian auf Toms Namen, aber zu anderen Adressen bestellt hat.
Bis heute hat der Prozess gegen Sebastian nicht begonnen. Die Ermittlungen laufen noch, der zuständige Kommissar darf auf Anfrage keine Details nennen. Er lässt aber durchblicken, dass Tom nicht übertreibt. Seine Anzeige hat offenbar einige weitere Fälle ins Rollen gebracht. Auch die Presseabteilung der Staatsanwaltschaft bestätigt: „Im Haftbefehl aus dem Sommer standen sechs Vergehen. Aber wir haben die Ermittlungen auf mindestens 24 Fälle ausgeweitet. Die Aktenordner füllen mehrere Kartons.“ Die Staatsanwaltschaft ist optimistisch, dass die Ermittlungen bald abgeschlossen sind. Dann könnte endlich ein Verfahren eröffnet werden. Wegen Titelmissbrauchs, des Missbrauchs der Berufsbezeichnung „Rechtsanwalt“, Urkundenfälschung und Betrug. Wenn man Sebastian mit Toms Erzählung und den Vorwürfen konfrontiert, reagiert er nicht. Unter seiner Telefonnummer meldet sich eine angebliche Sekretärin, die Nachrichten für ihn aufnimmt. Aber er ruft weder zurück noch beantwortet er Mails. Tom hat vor Kurzem Sebastians Mutter ausfindig gemacht. Er sagt, sie hat ihm bei einem Kaffee erzählt, Sebastian sei ihnen schon im späten Teenager-Alter entglitten. Vor 20 Jahren habe Sebastian einen Freund gehabt, der ihn übel beeinflusste. Und er habe lange mit diesem Freund in eingetragener Lebenspartnerschaft gelebt. Auch dieser Ex-Mann von Sebastian werde per Haftbefehl gesucht. Vielleicht hat Sebastian bei ihm gelernt.
Durch seine Bachelor-Arbeit ist Tom übrigens durchgefallen. Er hat gerade einen zweiten Anlauf gestartet, auch wenn er sich da eigentlich nicht nochmal durchquälen wollte. Aber ein Studienabschluss wäre für ihn ein großer Schritt zurück ins echte Leben. In dem fühlt sich Tom noch immer nicht ganz sicher. Er hat Angst, dass Sebastian sich noch mehr, noch perversere Psychotricks ausdenken könnte. Oder sich anders seiner Strafe entziehen. „Erst, wenn Sebastian wirklich im Gefängnis ist“, sagt Tom, „werde ich wieder vertrauen können. Darauf, dass es echte Juristen gibt, die auf meiner Seite stehen.“
* Wir haben alle Namen geändert. Der Redaktion sind die echten Namen von Tom und Sebastian bekannt.
Hinweis: Dieser Text erschien erstmals am 24. Februar 2018. Er wurde am 3. April 2021 nochmals veröffentlicht.