- • Startseite
- • Liebe und Beziehung
-
•
Anti-Autoritäre Erziehung: Gut oder schlecht? Zwei junge Menschen erzählen
Samstag, das hieß bei Anna*, 20, im Garten Laub harken oder im Haushalt helfen. Alle vier Kinder mussten mit anpacken und Anna sollte als die Älteste der Geschwister mit gutem Beispiel vorangehen. Da gab es gar keine Diskussion. Wenn die jüngere Schwester beim Abendessen zu viel zappelte, klemmte die Eltern ihr Bücher unter die Arme, sodass sie zwangsläufig die Hände am Tisch behalten musste. „Das alles klingt vielleicht extrem“, sagt Anna, die heute Jura in Jena studiert, trotzdem findet sie diese Maßnahmen auch rückblickend nicht schlimm: „Zwar habe ich mich manchmal geärgert, dass häufig nicht erklärt wurde, warum wir bestimmte Dinge tun sollten, dafür haben wir früh gelernt, wo unsere Grenzen sind und das bewerte ich im Nachhinein als positiv.“ Das Verhältnis zu ihren Eltern sei nie ein schlechtes gewesen, meint sie, nur eben auch kein freundschaftliches.
Was für Anna als Kind an Erziehungsmethoden normal war, darüber würden viele Eltern heute den Kopf schütteln. Dem Prinzip der „Autorität“ haftet die Aura einer vergangenen Zeit an, in der Eltern noch gesiezt und Kinder in der Schule noch geschlagen wurden. Umso mehr wollen Eltern, die selber ein hohes Maß an Autorität erlebt haben, bei ihren Kindern einen anderen Kurs fahren: Freundschaft statt strenger Erziehung, Beratung statt Verbote. Zumindest beobachtet die Konrad-Adenauer-Stiftung seit einiger Zeit diesen Trend (LINK) und stützt sich dabei auf die Shell-Studie von 2016, bei der 90 Prozent der befragten Jugendlichen angaben, ein gutes bis sehr gutes Verhältnis mit ihren Eltern zu haben.
Gartenarbeit wäre Robert*, 26, als Jugendlicher nicht in den Sinn gekommen. Selbst dann nicht, als sein Vater ihm zehn Cent pro Löwenzahn bot, den er aus dem Schrebergarten ziehen sollte, um symbolisch die viel zu teuren Nike-Schuhe mit zu finanzieren. „Es gab keinen Zwang, wir haben über alles auf Augenhöhe verhandelt, selbst über das Taschengeld“, beschreibt der Politik-Student die Erziehung seiner Eltern. Dass es in seiner Kindheit kaum Grenzen gab, machte sich in der Schule bemerkbar. Robert beschreibt sein Ich von damals als „Enfant terrible“, ein Quälgeist, der vor Lehrern keinen Respekt hatte und um den der Rest der Familie bei Feiern einen großen Bogen machte. „Meine Tanten warfen meiner Mutter vor, sie sei nicht streng genug. Ich trat meinen älteren Cousins zur Begrüßung vors Schienbein und hatte nur sehr wenig Respekt“, erinnert er sich.
„Kinder sind keine Freunde“, sagt die Psychologin
„Tyrannenkinder“, nennt Martina Leibovici-Mühlberger Kinder wie Robert. Die Psychologin hält nichts von dem Konzept, Kinder ihre Grenzen selbst austesten zu lassen: „Kinder sind keine Freunde. Wenn Eltern Kumpels für ihre Kinder sein wollen, haben wir einen Erziehungsnotstand. Wer ist dann noch die Generation, die die Jüngeren führt?“ Wenn sie von Jugendlichen spricht, sagt sie „unfertige Organismen“, betont aber auch, dass das gar nicht böse gemeint ist. „Kinder brauchen Strukturen, an denen sie sich orientieren können. Wenn man ihnen vorgaukelt, sie hätten die absolute Wahlfreiheit mit dem, was sie machen möchten, dann werden sie spätestens in der Schule oder anderen Institutionen massiv scheitern. Es bringt nichts, sie auf einem Samtpolster durch die Kindheit zu befördern. Zur Wahlfreiheit gehört auch Verantwortung und das müssen Kinder erst mal von Menschen lernen, die damit mehr Erfahrung haben als sie selbst“, prophezeit sie.
Robert findet sich in dieser Vorhersage wieder. In der Grundschule konnte er sich nur schwer konzentrieren, die Lehrerin legte den Eltern eine Sonderschule ans Herz. „Ich hatte eine regelrechte Terrorphase, wo ich komplett ausgerastet bin. In einem Wutanfall zertrat ich mein Hochbett. Ich schlug mich regelmäßig mit anderen Jungs. Ein schlimmer Moment war, als dabei meinetwegen einem Jungen das Trommelfell platzte“, erinnert sich Robert. Dafür musste er sich zwar entschuldigen, zu Hause gab es für Robert aber keinen zusätzlichen Ärger wegen des Vorfalls.
Seine Eltern setzten auf Konsequenz statt auf Verbote und Strafen. Sie schickten ihn zur Ergo-Therapie, wo er lernte, ruhiger zu werden und sich länger als fünf Minuten auf eine Sache zu konzentrieren. Robert wechselte auf das Gymnasium, machte sein Abi und hat heute keine Schwierigkeiten mehr, stundenlang am Laptop zu sitzen und zu arbeiten. Konflikten geht er aus dem Weg. Dass er nur schwer nein sagen kann, liegt vielleicht daran, dass seine Eltern das auch nie getan haben.
Kinder sind kein Mittel, um selbst jung zu bleiben
Leibovici-Mühlberger findet das problematisch. „Wenn man die Verantwortung zurück ans Kind delegiert und sagt, du bist eh groß genug, du spürst was für dich am besten passt, dann ist das eigentlich nur für die Eltern von Vorteil. Die sparen sich die Diskussion und versichern sich gleichzeitig, irgendwie selbst jung geblieben zu sein. Aber man kann diese Verantwortung nicht psychoromantisch verschleiern“, findet sie. Eltern sollten sich bewusst sein, dass Kinder kein Mittel der ewigen Jugend sind, um selbst jung zu bleiben, sondern Erwachsene Vorbilder brauchen.
Dass Robert schon als Kind auf Augenhöhe begegnet wurde, führte aber auch dazu, dass er bis heute mit seinen Eltern über alles reden kann. Andersrum erzählen ihm seine Eltern genauso von ihren Ängsten, Liebesproblemen oder politischen Vorstellungen, wie sie es mit Freunden tun würden.
Für Anna ist diese Vorstellung befremdlich: „In der Pubertät wäre ich mit meinen Problemen immer erst mal zu meinen Freunden gegangen. Meine Eltern wussten in dieser Zeit kaum, was ich mache.“ Als eine Freundin sie einmal sturzbetrunken mithilfe eines Taxifahrers vor die Wohnungstür trug, erfuhren ihre Eltern durch einen Nachbarn von der wilden Nacht ihrer Tochter. Geredet haben sie darüber erst Jahre später. Sie fand es immer komisch, wenn Freundinnen sich mit ihren Müttern über ihr Sexleben austauschten. Im Nachhinein glaubt sie, dass ihre Mutter es vielleicht ein bisschen schade fand, nicht so viel von der Gefühlswelt ihrer ältesten Tochter mitbekommen zu haben, trotzdem findet sie, ihre Eltern haben viel richtig gemacht: „Man hat halt Freunde und man hat halt Eltern. Ich mag beide, aber es sind unterschiedliche Arten von Beziehungen.“
*Robert und Anna heißen eigentlich anders, ihre Namen sind der Redaktion aber bekannt.