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Lesen mit Links (4): Nach den Flugzeugen

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Das Buch

„Der amerikanische Architekt" stand wochenlang auf Platz 1 der amerikanischen Buchcharts. Die New York Times-Journalistin Amy Waldman erzählt von einer fiktiven 9/11-Gedenkstätte, die zum kollektiven Aufruhr führt. Denn der Architekt ist: Moslem.  Text: jan-drees - Illustration: Katharina Bitzl

Als das World Trade Center bei den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 in New York einstürzte, war schnell klar, dass die Türme nicht wieder aufgebaut werden. Stattdessen soll eine Gedenkstätte an die vielen Opfer erinnern. Das Komitee in Amy Waldmans Debütroman bekommt zwei Jahre nach den Anschlägen die Aufgabe, aus anonym eingereichten Entwürfen den besten auszusuchen. Sie entscheiden sich für den „Garten der Besinnung" und erfahren, dass der Gewinner Mohammed Khan heisst, aus den USA kommt und Moslem ist.

Schnell bildet sich Widerstand gegen diese Entscheidung. Opferverbände klagen, dass sie zum zweiten Mal angegriffen werden. Medien und konservative Wissenschaftler versteigen sich in der Behauptung, ein Garten sei nichts anderes als das islamische Paradies, in das sich die Attentäter damals bomben wollten, somit keine Gedenkstätte für die Opfer, sondern ein Ehrengrab für Mohammed Atta und seine Komplizen. Dazu kommt die generelle Klage über eine Gedenkstätte, artikuliert von einem Imam: "Wenn wir schon von Gedenkstätten reden - wo ist die Gedenkstätte für die halbe Million irakischer Kinder, die durch US-Sanktionen ums Leben kamen? Für tausende unschuldige Afghanen, die in der Folge der Anschläge getötet wurden, oder für die Irakis, die unter dem Vorwand einer Reaktion auf die Anschläge den Tod fanden? Für alle Muslime, die in Tschetschenien, Kaschmir oder Palästina abgeschlachtet wurden, während die USA tatenlos zusahen?" Am Ende wird sogar eine Fatwa gegen Mohammed Khan erlassen.

Es wird immer ungemütlich, wenn Opfer ihr Leid gegeneinander aufwiegen. Die Stärke dieses sehr guten Buchs liegt im Ton. Nüchtern beschreibt Amy Waldman die Hysterie einzelner Szenen und die verborgenen Räume, in die man normalerweise nicht hineinschauen kann: geheime CIA-Befragungen am Flughafen, Deals im Hinterzimmer, politische Absprachen, nachdem die Mikrofone ausgeschaltet wurden. Es ist ein Kitzel, der mit den geheimen „Homeland" -Ermittlungen verglichen werden kann. Auf welcher Seite man stehen mag, ob man überhaupt Seiten oder Fronten aufbauen möchte, überlässt Amy Waldman dem Leser.

„Der amerikanische Architekt" fragt ganz konkret nach dem Wert unserer Demokratie. Mit welchen Konsequenzen muss gerechnet werden, sobald eine empfindliche Öffentlichkeit Einfluss gewinnt? „Wenn man der Öffentlichkeit diese Art von Macht gibt, gibt man praktisch alles, was hässlich ist, oder eine Herausforderung, oder schwierig, oder von einem Mitglied einer Gruppierung geschaffen wurde, die gerade nicht in ist, mehr oder weniger zum Abschuss frei.\" Irgendwann wird in diesem Roman Blut fließen.

Amy Waldman: "Der amerikanische Architekt" , übersetzt von Brigitte Walitzek, Schöffling, 512 Seiten, 24,95 Euro.

Die Querverweise

Der Film "Man on Wire" erzählt die wahre Geschichte des Seiltänzers Philippe Petit, der 1974 zwischen den beiden Türmen des WTC balanciert ist. Diese Geschichte steht im Mittelpunkt von Colum McCanns 9/11-Roman „Die große Welt".

Schon kurz nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 veröffentlichte der damals 21-jährige Shootingstar Nick McDonell die Geschichte „Der dritte Bruder" . Regelrechte 9/11-Epen kommen beispielsweise von Don DeLillo mit „Falling Man", von Jonathan Safran Foer mit „Extrem laut und unglaublich nah" und von John Updike mit „Terrorist" . Wer lieber Sachbücher liest, aber keine Lust auf Verschwörungstheorien hat, für den lohnt sich „9/11 - Der Tag, die Angst, die Folgen" von Bernd Greiner. Der Paradiesgarten, um den es in Amy Waldmans Buch geht, hat eine lange Geschichte, clever dargestellt in einer kleinen Kulturgeschichte von Heinrich Krauss. Dass die erfundene Debatte aus Amy Waldmans Roman keineswegs aus der Luft gegriffen ist, zeigt der ganz reale Aufruhr um das geplante muslimische Gemeindezentrum "Park51" in Lower Manhattan.

Die Updates

literary.maps: Orte sind seit einiger Zeit auch in Deutschland ein extrem heißes Literaturthema. In den Wissenschaften wurde diese Ausrichtung "spatial turn" getauft. Es gibt sehr kluge Sachbücher, wie den Glossar zu Räumen der Gegenwart von Nadine Marquart und Verena Schreiber. Es werden Doktorarbeiten über Begehbare Literatur verfasst. Und das Ploughshares Literary Magazine veröffentlicht eine sehr schöne Reihe über literarische Orte. In der aktuellen Ausgabe geht es um Berlin .

Kinder aus Seelenheide: Anna Palm, genannt „die kleine J.K. Rowling vom Niederrein", ist 18 Jahre alt und bringt diese Woche ihr drittes Buch auf den Markt. „Schmetterling aus Staub" heißt es und erzählt eine problematische Liebesgeschichte zwischen der 16-jährigen Mika und dem rätselhaften Aaron. Die beide leben in der Phantasiewelt „Seelenheide". Beim staatlich angeordneten Persönlichkeitstest wird Mika schwer beunruhigt. Anlehnungen an „Cassia & Ky" dürften zufällig sein. Der Roman erscheint im Berliner Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf, der bereits Rebecca Martin entdeckt hat.

Verlagsnachwuchs: Am 16. Februar wird Metrolit aus Berlin sein allererstes Programm vorstellen. Die Szene spricht dieser Tage über wenig anderes. Das liegt vor allem daran, dass mit Blumenbar -Gründer Lars Birken-Bertsch und Peter Graf vom extrem edlen Verlag Walde + Graf zwei echte Könner an Bord sind. Freut Euch auf ein großes Spex-Buch und auf "Die Kunst einen Bleistift zu spitzen" von David Rees.

Text: Jan Drees

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